Oben ohne
mir, verpackt in einer großen Tasche. Das ist relativ schwer und sperrig, sodass Ein- und Aussteigen sowie das Laufen auf dem Bahnsteig keine richtige Freude sind – denn auf dem Rücken habe ich auch noch meinen großen Rucksack. Den Rest habe ich mit dem Bahngepäckservice aufgegeben, der das Gepäck morgen nachliefern wird. In Freiburg hat mir Tino noch geholfen, und jetzt sitze ich im ersten Zug Richtung Norden. Um von Freiburg nach München zu gelangen, muss man zunächst 140 Kilometer in die falsche Richtung fahren, erst in Karlsruhe führt die Verbindung dann nach Osten.
Jetzt sitze ich am Fenster und schaue in die Rheinebene. Die zwei Wochen Wartezeit gingen letztlich sehr schnell um. Zuerst noch die ganzen Formalitäten: Überall haben wir auf die Dringlichkeit aufmerksam gemacht, das war nervig, aber hatte Erfolg. Dann habe ich die Schulsachen erledigt. Meine Freunde und Verwandten wollten auch von meiner Entscheidung unterrichtet sein. Bei Oma in Stuttgart waren wir sogar nochmal zu einem kurzen Besuch. Sie findet meine Entscheidung zwar gut, aber leider mussten wir dafür einen anderen Plan aufgeben: Für die Sommerferien hatten wir Karten für das Abba-Musical in Stuttgart besorgt. Der Plan sah vor, dass wir uns »Mamma mia« anschauen und danach bei Oma »wohnen«, wie sie es genannt hat: also bei ihr übernachten. Das machen wir sonst nie, denn Stuttgart ist nur knapp zwei Stunden Autofahrt von Freiburg entfernt, und Tino schläft dann lieber im eigenen Bett. Aber im Sommer sollte es eben etwas anders sein, und sowohl Oma als auch ich haben uns schon sehr darauf gefreut. Daraus wird nun nichts. Sechs Wochen sind genehmigt und wahrscheinlich werde ich die auch brauchen. Das ist unvorstellbar lange, aber es ist sowieso gerade vieles unvorstellbar. Und: Ich habe ja auch noch kein Gentestergebnis.
Dass wir im Sommer nicht kommen werden, hat Oma sichtlich enttäuscht. Ich möchte das natürlich nachholen, aber Oma ist sich nicht sicher, ob daraus noch etwas wird. Sie ist zweiundachtzig, hatte schon Darmkrebs und hat jetzt ja den Brustkrebs – klar, dass sie davon ausgeht, dass ihre Tage gezählt sind. Mir tut es leid, ich kann es im Moment aber nicht ändern. Außerdem lasse ich die Vorstellung, dass ihre Tage gezählt sind, lieber nicht an mich ran. Wir vermachen die Karten meinem Onkel und meiner Tante, sodass sie wenigstens nicht verfallen müssen.
Ansonsten waren die Reaktionen meiner Freunde und Kollegen für mich überraschend: Viele hatten gar nicht gemerkt, dass es mir schlecht geht. Ich habe das natürlich auch überspielt. Andererseits scheint es einfach dazuzugehören, dass man Stress hat und darüber jammert. Sonst macht man einfach keinen guten Job! Ich glaube, für manche war es einfach normal, dass ich mich immer am Anschlag gefühlt habe. Und meine Reaktion darauf, nämlich in Kur zu gehen, fanden sie leicht übertrieben. Das hat mir niemand so offen ins Gesicht gesagt, aber manche unwillkürliche Reaktion, mancher Blick oder manche sehr erstaunte Nachfrage ließen das vermuten. Egal, ich weiß jedenfalls, dass es die richtige Entscheidung war, auch wenn ich mich hier im Zug gerade ziemlich einsam fühle. Das bekannte Gefühl.
Hinter Ulm setzt starker Regen ein. Damit hatte ich nicht gerechnet. Am Wochenende war es noch schön gewesen, wir hatten sogar mit einigen Freunden einen Ausflug in die Vogesen gemacht, wo gerade die Tour de France durchkam. Gestern standen wir noch am Col de la Schlucht in der Sonne, und die bunte Karawane der Tour rauschte an uns vorbei. Nun herrscht hier graue Tristesse. Je weiter wir fahren, desto stärker regnet es. Eigentlich gießt es bereits wie aus Kübeln. Einige Wiesen stehen unter Wasser, hier scheint es schon länger heftigen Niederschlag zu haben. Ich bin eben doch ein gutes Stück von Freiburg weg. Den Münchner Hauptbahnhof erreichen wir bereits mit einer ordentlichen Verspätung. Nur mit viel Glück schaffe ich jetzt den Anschlusszug. Also Rucksack auf, die Tasche mit dem Fahrrad so gut es geht über die Schulter hängen und losspurten! Draußen herrscht der ganz normale Wahnsinn eines Bahnhofs in einer Millionenstadt. Ich laufe so gut es geht den Bahnsteig bis zum Ende und schaue dann auf die große Anzeigentafel: Mist. Der Regionalzug fährt von einem Gleis außerhalb des Bahnhofs. Vielleicht doch lieber kurz einen Gepäckwagen schnappen – und weiter geht’s. Mit Karacho kurve ich durch die Halle, Slalom durch die Menschenmenge, und ab um
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