Oblomow
Mappe heraus und reichte ihn ihm. Er trat ans Licht, las ihn und legte ihn auf den Tisch. Und seine Augen wandten sich ihr wieder mit dem Ausdruck zu, den sie bei ihm schon lange nicht beobachtet hatte. Vor ihr stand ihr selbstbewußter, ein wenig spöttischer und grenzenlos gütiger Freund von früher, der sie stets verzogen hatte. Auf seinem Gesicht war kein Schatten von Leiden und Zweifeln. Er ergriff ihre beiden Hände, küßte bald die eine, bald die andere und versank dann in tiefes Sinnen. Auch sie wurde still und beobachtete starr den Widerschein des Denkens auf seinem Gesicht.
Plötzlich erhob er sich.
»Mein Gott, würde ich mich denn so quälen, wenn ich wüßte, daß es sich um Oblomow handelt!« sagte er, sie so freundlich und zutraulich anblickend, als ob sie keine schreckliche Vergangenheit hinter sich hätte. Ihr wurde froh und festlich zumute. Sie wurde sich darüber klar, daß sie sich vor ihm allein geschämt hatte; er richtete sie aber nicht und floh nicht! Was ging sie das Urteil der ganzen Welt an?
Er beherrschte sich wieder und war froh; doch das genügte ihr nicht. Sie sah, daß sie freigesprochen war; doch sie wollte wie eine Angeklagte ihr Urteil wissen. Er griff aber nach dem Hut.
»Wohin?« fragte sie.
»Sie sind aufgeregt, ruhen Sie aus«, sagte er. »Wir sprechen morgen weiter.«
»Sie wollen, daß ich die ganze Nacht nicht schlafe!« unterbrach sie ihn, seine Hand ergreifend und ihn zum Sitzen einladend. »Sie wollen gehen, ohne mir zu sagen, was es ... war, was ich jetzt bin und was ich sein werde? Andrej Iwanowitsch, haben Sie Mitleid mit mir; wer wird es mir sonst sagen? Wer wird mich bestrafen, wenn ich es verdient habe, oder ... wer verzeiht mir? ...« fügte sie hinzu und blickte ihn mit so zärtlicher Freundschaft an, daß er den Hut fortwarf und vor ihr fast niedergekniet wäre.
»Sie Engel, erlauben Sie, daß ich mein Engel sage. Quälen Sie sich nicht unnütz; man braucht Sie weder zu richten noch zu begnadigen. Ich habe zu Ihrem Bericht nichts mehr hinzuzufügen. Was für Zweifel können Sie hegen? Sie wollen wissen, was das war, wie das heißt? Sie wissen es längst ... Wo ist Oblomows Brief?« Er nahm den Brief vom Tisch.
»Hören Sie zu!« Er las: »Ihr gegenwärtiges ›Ich liebe‹ ist nicht gegenwärtige, sondern zukünftige Liebe. Das ist nur das unbewußte Verlangen, zu lieben, das sich in Ermangelung von echter Nahrung bei Frauen manchmal im Liebkosen eines Kindes, einer anderen Frau oder einfach in Tränen und in hysterischen Anfällen äußert ... Sie haben sich geirrt« (las Stolz, dieses Wort betonend). »Vor Ihnen steht nicht derjenige, den Sie erwartet, von dem Sie geträumt haben. Warten Sie – er wird kommen, und dann werden Sie erwachen und sich über Ihren Irrtum ärgern und schämen ...«
»Sehen Sie, wie wahr das ist!« sagte er. »Sie haben sich über Ihren ... Irrtum geschämt und geärgert. Man kann nichts mehr hinzufügen. Er hat recht gehabt, und Sie haben ihm nicht geglaubt, das ist Ihre Schuld. Sie hätten sich damals gleich trennen sollen; doch Ihre Schönheit hat ihn besiegt ... und Sie waren ... von seiner taubenhaften Zärtlichkeit gerührt!« fügte er ein wenig spöttisch hinzu.
»Ich habe ihm nicht geglaubt, ich dachte, das Herz irre nicht ...«
»Nein, es irrt sich; und stößt manchmal ins Verderben! Aber Ihr Herz hat ja gar nicht mitgesprochen«, fügte er hinzu. »Es war einerseits Einbildung und Eitelkeit und anderseits Schwäche ... Und Sie haben gefürchtet, daß es der einzige Feiertag Ihres Lebens wäre, daß dieser klare Strahl Ihr Leben erhellt hätte und daß darauf ewige Nacht folgen würde ...«
»Und die Tränen?« sagte sie, »sind sie mir denn nicht vom Herzen gekommen, wenn ich geweint habe? Ich habe nicht gelogen, ich war aufrichtig ...«
»Mein Gott! Worüber weinen die Frauen denn nicht? Sie haben ja selbst gesagt, daß es Ihnen um den Fliederstrauß und die Lieblingsbank leid tat ... Fügen Sie noch die betrogene Eitelkeit, die mißlungene Rolle einer Retterin und ein wenig Gewohnheit hinzu ... wieviel Ursachen, um zu weinen!«
»Und unsere Begegnungen und Spaziergänge waren auch ein Irrtum? Erinnern Sie sich, daß ich ... bei ihm gewesen bin ...« schloß sie verlegen und schien ihre Worte selbst übertäuben zu wollen. Sie bestrebte sich, sich selbst anzuklagen, nur damit er sie eifriger verteidigte und um in seinen Augen immer mehr recht zu haben.
»Aus Ihrem Bericht ist zu ersehen, daß Sie bei den
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