Oblomow
Aber für die Liebe ist etwas anderes, sind manchmal Kleinigkeiten notwendig, etwas, das weder zu bestimmen noch zu nennen ist und das mein unvergleichlicher, aber plumper Ilja nicht besitzt. Deshalb wundere ich mich. Hören Sie«, fuhr er lebhaft fort, »wir werden so niemals ans Ziel gelangen und einander verstehen. Schämen Sie sich nicht der Einzelheiten, schonen Sie sich eine halbe Stunde lang nicht, erzählen Sie mir alles, und ich werde Ihnen sagen, was es war und vielleicht auch, was sein wird ... Mir scheint immer, daß es nicht das Richtige war ... Ach, wenn es so wäre!« fügte er eifrig hinzu. »Wenn es Oblomow und kein anderer war! Oblomow! Das bedeutet ja, daß Sie nicht der Vergangenheit und nicht der Liebe angehören, sondern daß Sie frei sind ... Erzählen Sie, erzählen Sie schnell!« schloß er mit ruhiger, fast fröhlicher Stimme.
»Ja, ich werde erzählen!« antwortete sie vertrauend und erfreut, daß man ihr einen Teil der Ketten abgenommen hatte. »Ich werde allein wahnsinnig. Wenn Sie wüßten, wie elend mir ist! Ich weiß nicht, ob ich schuldig bin oder nicht, ob ich mich der Vergangenheit schämen oder sie bedauern soll, ob ich auf die Zukunft hoffen oder verzweifeln soll ... Sie haben von Ihren Qualen gesprochen, ohne die meinigen zu ahnen. Hören Sie mir bis zu Ende zu, aber nicht mit dem Verstand; ich fürchte ihren Verstand; lieber mit dem Herzen, vielleicht wird es Sie daran erinnern, daß ich keine Mutter habe, daß ich wie im Walde war ...« fügte sie leise, mit gesenkter Stimme hinzu. »Nein«, verbesserte sie sich eilig, »schonen Sie mich nicht. Wenn es Liebe war, dann ... verreisen Sie ...« Sie schwieg eine Weile. »Und kommen Sie wieder, wenn in Ihnen nur die Freundschaft sprechen wird. Wenn es aber nur Leichtsinn und Koketterie war, dann richten Sie mich, fliehen Sie und vergessen Sie mich! Hören Sie.«
Er drückte ihr statt einer Antwort beide Hände.
Jetzt begann Oljgas lange, genaue Beichte. Sie versetzte deutlich, Wort für Wort alles das, was so lange an ihr genagt hatte, wovor sie errötete, was sie früher gerührt und glücklich gemacht hatte, und dann in den Sumpf des Leidens und der Zweifel zu versinken, aus ihrem Hirn in ein fremdes.
Sie erzählte von den Spaziergängen, vom Park, von ihren Hoffnungen, von Oblomows Klärung und Fall, vom Fliederzweig, sogar vom Kuß. Sie überging nur den schwülen Abend im Garten mit Schweigen – wahrscheinlich deshalb, weil sie sich noch nicht darüber klar war, welch einen Anfall sie damals gehabt hatte.
Zuerst hörte man nur ihr verlegenes Flüstern, aber in dem Maße, als sie sprach, wurde ihre Stimme deutlicher und freier; sie ging vom Flüstern in halblautes Sprechen über und erhob sich dann bis zu den vollen Brusttönen. Sie schloß ruhig, als hätte sie fremde Erlebnisse erzählt. Vor ihr selbst sank ein Schleier herab, vor ihr stand deutlich die Vergangenheit, die sie bis zu diesem Augenblicke genau zu betrachten gefürchtet hatte. Ihr eröffnete sich jetzt vieles, und sie hätte ihren Freund dreist angeblickt, wenn es nicht dunkel gewesen wäre ... Sie war zu Ende und wartete sein Urteil ab. Die Antwort war aber Todesschweigen. Was hat er? Man hört kein Wort, keine Bewegung, nicht einmal einen Atemzug, als ob niemand neben ihr wäre. Dieses stumme Verhalten rief in ihr wieder Zweifel hervor. Das Schweigen dauerte fort. Was bedeutete es? Welches Urteil hatte sie vom scharfsinnigsten, nachsichtigsten Richter der ganzen Welt zu erwarten? Alle anderen würden sie erbarmungslos verurteilen, nur er allein konnte ihr Rechtsanwalt sein, sie hätte ihn dazu erwählt ... er würde alles begreifen, erwägen und besser als sie selbst zu ihrem Besten deuten! Er schwieg aber; war denn ihre Sache verloren? ... Ihr wurde wieder angst ...
Die Tür öffnete sich, und die beiden Kerzen, die von dem Stubenmädchen hereingebracht wurden, beleuchteten ihre Ecke.
Sie wandte ihm einen schüchternen, aber gierigen und fragenden Blick zu. Er hatte die Hände gekreuzt, blickte sie mit sanften, offenen Augen an und weidete sich an ihrer Verlegenheit. Sie atmete auf, und es wurde ihr warm ums Herz. Sie seufzte beruhigt und hätte fast geweint. Zu ihr kehrte augenblicklich die Nachsicht mit sich und das Vertrauen ihm gegenüber zurück. Sie war glücklich wie ein Kind, dem man verziehen, das man beruhigt und liebkost hatte.
»Ist das alles?« fragte er leise.
»Alles!« sagte sie.
»Und wo ist sein Brief?«
Sie nahm den Brief aus der
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