Oblomow
Tote? Verschlafen sie denn nicht im Sitzen das ganze Leben? Warum bin ich, der ich den ganzen Tag zu Hause liege und den Kopf nicht mit Buben und Dreien vollpfropfe, mehr zu verurteilen?«
»Das ist alles alt und ist tausendmal gesagt worden«, bemerkte Stolz. »Weißt du nichts Neueres?«
»Und was tut die Blüte unserer Jugend? Schläft sie denn nicht im Gehen, im Fahren über den Newsky, im Tanzen? Das ist ein einfacher, leerer Wechsel der Tage! Und schau einmal hin, mit welchem Stolz und mit welcher Würde, mit welchem abstoßenden Blick sie alle diejenigen betrachten, die anders gekleidet sind und nicht ihren Namen und Rang besitzen. Und diese Unglücklichen bilden sich noch ein, über der Menge zu stehen: ›Wir bekleiden einen Posten, den sonst niemand bekleidet; wir sitzen in der ersten Reihe, wir kommen auf den Ball zum Fürsten N., wo nur wir zugelassen werden ...‹ Und wenn sie zusammenkommen, betrinken sie sich und raufen wie Wilde miteinander! Sind denn das lebendige, empfängliche Menschen! Und nicht nur die Jugend allein; schau dir die Erwachsenen an. Sie versammeln sich und bewirten sich gegenseitig; es ist aber weder Gastfreundschaft noch Güte noch gegenseitige Sympathie darin! Sie kommen zum Mittagessen oder zum Abend wie in ein Amt, ohne Fröhlichkeit, kalt, um mit dem Koch und dem Salon zu prahlen und dann bei Gelegenheit einander zu verspotten und ein Bein zu stellen. Vorgestern beim Mittagessen wußte ich nicht, wo ich hinschauen sollte, und wäre am liebsten unter den Tisch gekrochen, als der gute Ruf der Abwesenden in den Kot gezerrt wurde: ›Dieser ist dumm, jener gemein, der eine ist ein Dieb, der zweite lächerlich.‹ – Die reinste Parforcejagd! Während dieser Gespräche blicken sie einander mit Augen an, die zu sagen scheinen: ›Geh nur zur Tür hinaus, dann kriegst auch du dasselbe ab ...‹ Wozu kommen sie denn zusammen, wenn sie so sind? Man hört weder ein aufrichtiges Lachen, noch sieht man einen Schein von Sympathie! Sie bestreben sich, einen hohen Rang, einen lauten Namen zu erhaschen. ›Dieser da war bei mir und ich war bei jenem‹ – prahlen sie dann ... Was ist denn das für ein Leben? Ich will kein solches. Was kann ich dort lernen, womit mich bereichern?«
»Weißt du was, Ilja!« sagte Stolz, »du urteilst wie ein alter Mann; in den alten Büchern steht genau dasselbe. Übrigens ist auch das gut; wenigstens denkst du und schläfst nicht. Nun, was hast du noch zu sagen? Fahre fort!«
»Was soll ich denn noch sagen? Sieh einmal zu: niemand hat hier eine frische, gesunde Gesichtsfarbe.«
»Das ist die Schuld des Klimas«, unterbrach ihn Stolz. »Du hast ja auch ein welkes Gesicht, und du rennst nicht herum, sondern liegst immer.«
»Niemand hat einen ruhigen, klaren Blick«, fuhr Oblomow fort; »alle stecken sich gegenseitig mit irgendeiner quälenden Sorge, mit Traurigkeit an und suchen krankhaft nach etwas. Und wenn es noch das Wahre und Gute für sich und andere wäre – aber nein, sie erbleichen ja beim Erfolg ihres Kameraden. Der eine denkt daran, daß er morgen zur Behörde gehen muß; sein Prozeß zieht sich schon in das fünfte Jahr hin, sein Gegner gewinnt die Oberhand, und er trägt fünf Jahre lang den einen Gedanken, den einen Wunsch mit sich herum, den andern zu stürzen und auf den Trümmern seines Glückes den eigenen Wohlstand aufzubauen. Fünf Jahre lang im Wartezimmer herumgehen, zu sitzen und zu seufzen – das ist ein ideales Lebensziel. Ein zweiter quält sich, weil er verdammt ist, jeden Tag ins Amt zu gehen und bis fünf Uhr dazubleiben, und jener seufzt tief, weil ihm ein solcher Segen nicht beschert worden ist ...«
»Du bist ein Philosoph, Ilja!« sagte Stolz. »Alle sorgen sich, nur du brauchst nichts!«
»Jener gelbe Herr mit der Brille«, sprach Oblomow weiter, »hat mir keine Ruhe gelassen, ob ich die Rede irgendeines Abgeordneten gelesen habe, und hat mich angeglotzt, als ich ihm gesagt habe, daß ich keine Zeitungen lese. Und dann hat er von Louis Philipp angefangen, als wär's sein leiblicher Vater. Dann hat er gefragt, warum der französische Botschafter meiner Meinung nach aus Rom verreist ist! Wie, man soll das ganze Leben lang dazu verurteilt sein, sich täglich mit Neuigkeiten über die ganze Welt vollzuladen und die ganze Woche lang darüber zu schreien, bis man nicht mehr kann! Heute schickt Mehmed Ali ein Schiff nach Konstantinopel – und er zerbricht sich darüber den Kopf, warum? Morgen hat Don Carlos keinen Erfolg
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