Obsession
nicht Carlisle, der war noch krankgeschrieben –
hatte darauf hingewiesen, dass Ben keinen Antrag auf Betreuungsrecht gestellt hatte. Außerdem war Jacob nicht auf Dauer in
Pflege gegeben worden. Man hoffte, dass er am Ende zu seinem Vater zurückkehren könne.
Vorausgesetzt natürlich, dass Cole keine Gefängnisstrafe antreten musste.
Ben sagte sich, dass er eigentlich froh sein sollte, aber irgendwie wollte sich keine Zufriedenheit einstellen. Die Erinnerung
daran, wie Cole in Handschellen aus dem Raum gezerrt worden war, war zu lebendig. Er hatte das Gefühl, alles nur schlimmer
statt besser gemacht zu haben.
Er hatte das Gefühl, etwas zerstört zu haben.
Am Tag nach der Sitzung hatte er überlegt, sich bei Sandra Cole zu melden. Am Ende hatte er es aber nicht getan. Er konnte
sich nicht vorstellen, dass sie mit ihm würde sprechen wollen, und er hätte nicht gewusst, was er sagen sollte. «Tut mir leid»
war kläglich und unpassend, wenn das Leben eines Menschen zugrunde gerichtet worden war. Stattdessen hatte er alle Fotos und
Negative verbrannt, die er noch von ihr hatte. Es erschien wie eine leere Geste, und als er zugeschaut hatte, wie das Papier
und die Zelluloidstreifen aufflammten |367| und schwarz wurden, hatte ihn das Bedürfnis gepackt, noch mehr zu büßen. Er hatte das Teleobjektiv und den Polarisationsfilter
geholt und hinaus zum Feuer getragen. Den Filter hatte er sofort hineingeworfen, bei dem Objektiv hatte er jedoch gezögert.
Ihm kam in den Sinn, wie teuer es gewesen war. Wenn er etwas wiedergutmachen wollte, sollte er es besser verkaufen und das
Geld an Sandra schicken. Eine Weile hatte er das schwere Teil in den Händen gewogen und dann in die Flammen fallen lassen.
Ein Mann mit zwei Kindern trat an das Nachbargrab. Ben und der Mann nickten sich zu, dann taten sie so, als wäre der andere
nicht da. Die Kinder machten einen bedrückten Eindruck, dennoch durchschnitten ihre hellen Stimmen die Friedhofsruhe. Mit
einem letzten Blick auf Sarahs Grab hob Ben die verwelkten Blumen auf und ging davon. Er machte einen Umweg an einem Müllkasten
vorbei, der mit anderen, weggeworfenen Sträußen vollgestopft war. Durch den Maschendraht ragten abgebrochene Stängel, und
die einst fröhlichen Blüten von Chrysanthemen, Rosen und Nelken waren verwelkt und zerdrückt. Er warf seine Blumen hinein
und hielt dann inne. Nach einem Augenblick ging er zum Wagen und holte seine Kamera.
Er fotografierte den Müllbehälter aus verschiedenen Blickwinkeln und verschoss dabei einen ganzen Film. Er hätte weitergemacht,
wenn ihn nicht eine alte Frau misstrauisch beobachtet hätte. Als sie mit einem eifrigen Schwung ihres Gehstockes heranmarschierte,
packte er seine Sachen zusammen und verschwand.
Während er davonfuhr, kam ihm seine eigene Sterblichkeit in den Sinn. Die Symbolik des mit welken Blumen gefüllten Müllbehälters,
quasi ein Friedhof inmitten eines Friedhofs, war natürlich so offensichtlich wie abgedroschen. |368| Als Nächstes würde er noch die Todesanzeigen in der Zeitung lesen. Er versuchte, bei dem Gedanken zu lachen, aber so leicht
konnte seine Stimmung nicht aufgebrochen werden. Er wusste, er wartete darauf, dass etwas passierte, ohne eine Ahnung zu haben,
was es sein könnte. Als Jugendlicher hatte er wiederkehrende Träume gehabt, aus denen er zu Tode erschrocken erwacht war,
überzeugt, dass er sich am Rande einer unbestimmten Katastrophe befand, die er nie genau erkennen konnte. Ähnlich erging es
ihm jetzt. Seine Vernunft sagte ihm, dass es lediglich an seinem Gefühl der Leere lag, daran, dass er eine innere Unruhe verspürte,
aber es überzeugte ihn nicht.
Nichts war entschieden worden. Dies war nur die Ruhe vor dem Sturm. Alles andere war ein Vorspiel gewesen. Jetzt, da Coles
Seele offengelegt worden war, da die zivilisierte Haut der Zurückhaltung und Kontrolle schließlich von ihm abgefallen war,
wollte sich Ben lieber nicht vorstellen, was der Mann tun könnte oder wo er aufhören würde.
Es herauszufinden bereitete ihm eine höllische Angst.
Zwei Tage später kam es in den Morgennachrichten. Er war am Abend zuvor mit Keith bei einem Fußballspiel gewesen, einem Derby
zwischen den Spurs und Arsenal, das Tottenham kläglich verloren hatte, und noch immer mit ihrem Zusammentreffen beschäftigt,
als er sein Frühstück zubereitete. Es war das erste Mal, dass sie beide seit seinem Selbstmordversuch etwas unternommen
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