Obsession
noch immer die Sonne, und in der Luft lag noch immer der satte Geruch des gemähten Rasens. Ben atmete tief
durch, während er durch die friedliche Kulisse schritt. Ihn beschlich das Gefühl, er habe kein Recht, dort zu sein. Mit gesenktem
Kopf ging er zurück zu seinem Wagen. Als er das Tor erreicht hatte und aufschaute, sah er Sarah auf sich zukommen.
Natürlich war sie es nicht. Der Eindruck währte nur einen Augenblick, das Haar und die Kleidung der Frau hatten eine flüchtige
Illusion ausgelöst, doch Ben spürte einen Stich im Herzen. Die Frau warf ihm einen seltsamen Blick zu, als sie durchs Tor
kam, und da merkte er, dass er stehengeblieben war und sie anstarrte. Schnell ging er zu seinem Wagen und stieg ein. Er umklammerte
das Lenkrad und stieß mehrmals mit der Stirn sanft dagegen.
«O Gott, Sarah, warum hast du das getan?»
Noch eine Weile blieb er so sitzen, dann startete er den Wagen und fuhr davon.
Das Atelier befand sich in der obersten Etage eines alten Fabrikgebäudes. Als er sie gemietet hatte, waren die drei unteren
Stockwerke noch so gut wie unbewohnbar gewesen. Mittlerweile waren sie in einzelne Einheiten aufgeteilt und an Designfirmen,
Marketingbüros und Aufnahmestudios |72| vermietet worden, und Ben zahlte für eine fast zweimal so große Grundfläche wesentlich weniger als die anderen Mieter in den
beengten, renovierten Quartieren.
Er schloss die Tür auf und schaltete die Alarmanlage aus. Das Sonnenlicht strahlte durch die drei großen Oberlichte, mit denen
er die verrotteten Originale ersetzt hatte, sowie durch die deckenhohen Fenster, die sich über die gesamte Länge der nach
Osten zeigenden Wand erstreckten. Die Fenster auf der gegenüberliegenden Seite sorgten dafür, dass es auch nachmittags hell
blieb. Einer der Gründe, warum er die Etage genommen hatte, war, dass man hier perfekt mit natürlichem Licht arbeiten konnte.
Für ein besseres Licht hätte er schon vor die Tür gehen oder das Dach entfernen lassen müssen.
Außerdem wirkte das Atelier auf diese Weise wie ein Gewächshaus. Ben schaltete den großen Deckenventilator ein, der sich wie
die Rotorblätter eines Hubschraubers langsam zu drehen begann, und ließ die Jalousien vor Oberlichten und Fenstern hinab.
Nun schimmerte das Sonnenlicht weich und gedämpft herein.
Nachdem er Schuhe und Socken ausgezogen hatte, genoss er das Gefühl der geschliffenen Dielenbretter unter seinen Füßen. Im
Sommer arbeitete er gerne barfuß, obwohl sich Sarah immer über seine schmutzigen Füße beschwert hatte, wenn er nach Hause
kam, und er sie vor dem Zubettgehen erst waschen musste. Es gab ihm ein Gefühl von Freiheit, was natürlich ziemlich lächerlich
war, denn wie jeder x-beliebige Büroangestellte war letztlich auch er abhängig von den Einnahmen seiner Fotografie und musste
seine Kunden zufriedenstellen. Trotzdem, mit den nackten Dielenbrettern unter seinen Füßen fühlte er sich in Kontakt mit seinem
Atelier. Er konnte sich umherbewegen, ohne sein Auge vom |73| Sucher zu nehmen, und sich darauf verlassen, dass allein ihre Berührung ihn führte.
Er richtete gerade die großen Reflektoren für die anstehenden Aufnahmen her, als die Tür aufging und Zoe hereinkam. Sie warf
ihren Rucksack auf eines der zwei plüschigen Sofas.
«Die Scheiß- U-Bahn streikt!»
«Guten Morgen, Zoe.»
Sie fächelte sich mit ihrem knappen schwarzen T-Shirt Luft zu. Über ihrer weißen Jeans war ein Streifen nackter Haut zu sehen. «Tut mir echt leid, dass ich zu spät bin, aber ich
bin mit diesem verfluchten Bus fast eine Stunde im Verkehr stecken geblieben. Dann habe ich aufgegeben und bin zu Fuß gelatscht,
und jetzt schwitze ich wie ein Schwein. Mein Gott, was ist denn mit deinen Haaren passiert?»
«Ich brauchte eine Veränderung.»
Zoe neigte ihren Kopf zur Seite und musterte ihn. Sie war Anfang zwanzig und schlank, aber nicht so ebenmäßig und wohlgeformt
wie ein Model. Ihr Haar war kurz geschoren und im Moment schwarz gefärbt. Allerdings wechselte die Farbe ständig, vor nicht
allzu langer Zeit war es blond gewesen, davor rot. Einmal war es durch ein billiges Färbemittel versehentlich grün geworden.
Tagelang hatte sie kein Wort gesprochen.
«Sieht ganz okay aus», sagte sie. Nach diesem Urteil ließ sie sich weiter über ihre Odyssee zur Arbeit aus. Ben achtete nicht
darauf. Zoe war ein Morgenmuffel, in den zwölf Monaten, die sie als Assistentin für ihn arbeitete, hatte er
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