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Obsession

Titel: Obsession Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Simon Beckett
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wusste, dass er ungerecht war, schließlich konnte er dem Jungen für das, was geschehen war, nicht die Schuld geben. Aber
     er konnte auch nicht so tun, als hätte sich nichts verändert.
    Alles hatte sich verändert.
    Der Verkehr beruhigte sich, je näher sie der Schule kamen. Sie lag in Islington, und der Hin- und Rückweg, den er zweimal
     am Tag und fünfmal in der Woche auf sich nehmen musste, war häufig ein Albtraum. In Camden, wo sie wohnten, gab es eine Sonderschule,
     aber die war für Kinder mit allen möglichen Lernschwierigkeiten konzipiert und nicht nur für Autisten. Die Schule in Islington
     dagegen war eine der wenigen, die sich ausschließlich um autistische Kinder kümmerten. Sarah und er hatten entschieden, dass
     die Vorteile für Jacob, eine spezielle Förderung und Behandlung zu bekommen, die Unannehmlichkeiten des Transportes überwogen.
     Sarah hatte sogar darauf bestanden, ihn selbst hinzubringen und abzuholen, eine Vereinbarung, die Jacob bald als unantastbar
     betrachtet hatte. Er war gerade noch damit einverstanden, sich von Tessa fahren zu lassen, undenkbar war es aber, dass er
     mit dem öffentlichen Minibus fuhr, der auf seiner weitläufigen Route auch andere Kinder einsammelte.
    Sie konnten sich glücklich schätzen, dass er überhaupt von der Schule aufgenommen worden war. Als seine Krankheit schließlich
     diagnostiziert wurde, war Jacob schon fast im Schulalter gewesen, und es waren zahllose Briefe, Gesuche und Telefonate an
     die Schulbehörden vonnöten gewesen, |67| um ihn rechtzeitig einzuschulen. Immerhin hatten diese Mühen Sarah – und auch Ben, wie er sich erinnerte – von dem Schock
     des Arzturteils abgelenkt.
    Gemeinsam mit dem Tod seiner Mutter hatte jener Nachmittag beim Spezialisten bislang zu einem der schlimmsten Momente in Bens
     Leben gezählt. Er hatte Sarahs Hand gehalten, als der Arzt erklärte, dass Jacob zwar nicht geistig zurückgeblieben war, aber
     eine Entwicklungsstörung aufwies, die es ihm unmöglich machte, auf normale Art und Weise mit den Menschen und der Welt um
     ihn herum Kontakt aufzunehmen und zu kommunizieren. Es gebe weitgefächerte Ausformungen dieser Krankheit, hatte er gesagt,
     und obwohl die Anzeichen bei Jacob nicht so stark ausgeprägt seien wie bei manch anderem Patienten, würde er doch eine spezielle
     Erziehung und Fürsorge benötigen. Benommen hatten sie zugehört, als der Arzt ihnen die zu erwartenden Verhaltensauffälligkeiten
     schilderte, vom zwanghaften Wiederholen bestimmter Bewegungen oder Rituale bis hin zu Jacobs Schwierigkeiten, zwischenmenschliche
     Handlungen zu interpretieren und sich seinem Umfeld mitzuteilen. Ben hatte gefragt, ob die Krankheit heilbar sei. Nein, hatte
     der Arzt geantwortet. Autisten könne geholfen werden, man könne ihre Situation verbessern, geheilt werden könnten sie aber
     nicht. Sarah hatte zu Jacob geschaut, der auf dem Boden mit einem Rechenbrett spielte und die Steine umherschob, als würde
     er genau wissen, was er tat.
    Wodurch es ausgelöst werde, hatte sie gefragt. Der Arzt sprach lange über die Hirnentwicklung vor, während und nach der Geburt,
     über Vererbung und Kinderkrankheiten, am Ende aber hatte er nur mit den Achseln gezuckt und zugegeben, dass niemand die genauen
     Ursachen kenne. Und Sarah hatte Jacob mit einem Blick angesehen, den |68| Ben damals nicht zu ergründen wusste, den er nun aber, so glaubte er, zu verstehen begann. Als sie in jener Nacht schlaflos
     im Bett lagen, hatte sie die Decke angestarrt und gesagt: «Es ist eine Strafe.»
    «Ich bitte dich!» Ben war beunruhigt, seit sie sich mit Verlassen der Arztpraxis in sich zurückgezogen hatte.
    Sie starrte weiter an die Decke. «Doch. Es ist mein Fehler.»
    Die Sachlichkeit ihrer Worte hatte ihn verängstigt. «Wie soll es denn dein Fehler sein?» Sie hatte nicht geantwortet. «So
     zu denken ist keine Hilfe», entgegnete er. «Ich weiß, dass es schwer ist, aber wir haben keine andere Wahl, als uns der Sache
     zu stellen. Dir die Schuld zu geben bringt gar nichts.»
    Sie hatte nicht geantwortet. Nach einer Weile hatte sie zu weinen begonnen und sich an ihn geschmiegt und geschluchzt, bis
     beide irgendwann in einen erschöpften Schlaf gefallen waren. Am nächsten Morgen hatte Sarah mit aller Entschlossenheit begonnen,
     Schulen für Autisten anzurufen. Von Strafe und Schuld hatte sie nie wieder gesprochen.
    Ben musste an ihre Worte denken, als er den verstaubten VW Golf vor den Schultoren parkte. Er drehte

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