Ocean Rose. Erwartung (German Edition)
Oder –
»Alles leer.«
Ich atmete aus, als Simons Gesicht wieder in der Tür erschien.
»Nur Herbstlaub und vergammeltes Zeitungspapier.«
Er begann mit schnellen Schritten, einen Trampelpfad entlangzugehen, und ich lief im Joggingtempo hinterher. Dabei schaute ich mich nervös nach allen Seiten um. Überallgab es sichtbare Erinnerungen an die wechselhafte Vergangenheit von Camp Heroine. Nur ein paar Meter neben dem Pfad ragten Betonbunker für Artilleriegeschütze aus dem Efeugestrüpp hervor, von dem sie überwuchert waren. Im wilden Unterholz standen morsche Picknicktische und eiserne Abfalltonnen. Schwarze Graffiti bedeckten die Wände eines langgezogenen, rechteckigen Gebäudes. Falls Caleb versteckt bleiben wollte, war dieser Ort ideal.
»Die Hauptgebäude befinden sich da oben auf der Landzunge«, rief Simon mir über die Schulter zu, bevor er scharf nach rechts abbog und einem weiteren, aufsteigenden Trampelpfad folgte, der von unserem abzweigte.
Ich musste mich anstrengen, um ihn durch den Regen zu hören. Die Tropfen schlugen immer härter und dichter auf. Bei der Autofahrt war der Himmel noch klar gewesen, aber inzwischen hatte er sich bedrohlich verdunkelt. Wenn ich durch das Laubdach über mir spähte, konnte ich dicke graue Wolken vom Meer heranziehen sehen. Zehn Minuten später, als wir das Ende des Pfads erreicht hatten und oben auf einer schmalen Halbinsel standen, hing die Wolkendecke direkt über unseren Köpfen, der eiskalte Regen fiel so dicht, dass er wie eine solide Wand aussah, und die ersten Blitze zuckten über den Himmel.
»Wieso haben wir nicht mitbekommen, dass so ein Gewitter aufzieht?«, schrie ich, als ich neben Simon angekommen war. Man konnte kaum erkennen, wo der Himmel endete und das Meer begann, so stark war der Regen. Selbst den Strand am Fuße der Landzunge konnte ich nicht sehen.
»Ich habe das Wetter gecheckt, bevor wir losgefahren sind«, schrie Simon zurück. »Es gab eine geringe Wahrscheinlichkeit, dass es heute noch gewittert.«
Ich folgte ihm in ein Gebäude, das einige Meter vom Klippenrand entfernt im Wald stand. Von außen sah es auswie eine kleine Kirche, komplett mit unechten bunten Glasfenstern und unechtem Glockenturm. Simon holte eine Taschenlampe aus seiner Fleecejacke und schaute sich im Innenraum um. Der helle Lichtstrahl fiel auf hölzerne, an den Wänden anmontierte Schlafpritschen, in denen nun nur noch altes Laub und Zweige lagen, abgesehen von einem vergessenen Schlafsack.
Eigentlich sah es aus wie der perfekte Schauplatz für einen Horrorfilm, doch seltsamerweise wirkte es auf mich eher behaglich. Einladend. Wie ein Ort, an dem zwei Menschen tagelang unterkriechen und nur füreinander da sein konnten, falls sie das wollten.
»Das hier ist zwar nicht gerade das Lighthouse Wellness Resort«, meinte Simon und schaute hinaus auf den Regen, »aber zumindest sind wir im Trockenen.«
Mein Herz klopfte wie wild, als ich neben ihm stand, und ich wusste nicht genau, woran es eher lag: dass wir im Camp Heroine gestrandet und von einem Gewitter umgeben waren oder dass es sich plötzlich so anders anfühlte, einfach nur in Simons Nähe zu sein.
»So ein Extremwetter wurde jedenfalls nicht angesagt.« Unsere Blicke trafen sich. »Das Radarbild hat keinen Sturm von diesem Ausmaß gezeigt, weder hier noch in der Nähe.«
»Stürme bewegen sich normalerweise nicht so schnell, oder?«
»Nein, eigentlich nicht.« Er schaute wieder auf den Regen. »Die Häufigkeit der Unwetter nimmt zu, und sie werden immer stärker. Die Meteorologen sind jedes Mal wie vor den Kopf geschlagen, weil sich die Stürme durch keins der üblichen Vorzeichen ankündigen.«
»Wie damals auf den Chione Cliffs? Du hattest dir vorher den Wetterbericht angeschaut, und da hieß es, der Himmel würde klar bleiben.«
»Ja, genau. So war es heute auch. So ist es in letzter Zeit jedes Mal, wenn der blaue Himmel plötzlich schwarz wird. Als habe Mutter Natur ohne Vorwarnung einen Schalter umgelegt, damit niemand vorher ahnen kann, welchen Schaden sie diesmal anrichten wird. Genau darum geht es bei meinen Untersuchungen. Denn bisher konnten die Meteorologen es nicht erklären, genauso wenig wie der Nationale Wetterdienst oder meine Professoren. Und wenn sie endlich dahinterkommen, könnten die Schäden schon in Millionenhöhe gehen. Vielleicht sind bis dahin ganze Ortschaften verwüstet und noch mehr Menschen tot.«
Menschen. Tot.
»Das alles ist nicht nur eine Laune des
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