Ocean Rose. Erwartung (German Edition)
Caleb vor dem Unwetter hier war, muss er jetzt immer noch da sein. In diesem Sturm ist er auf keinen Fall weit gekommen.«
Ich folgte ihm nach draußen. Das Militär hatte beim Bau von Camp Heroine offenbar Talent bewiesen, denn das Unwetter hatte keine sichtbaren Spuren hinterlassen, bis auf eine zusätzliche Lage aus Blättern und Ästen, die den Pfad bedeckten. Die unechte Kirche hatte noch immer ihren unechten Glockenturm, und auch der Rest der Gebäude hatte es überlebt.
»Ist es okay, wenn ich noch ein paar Messungen vornehme, bevor wir weitersuchen?«, fragte Simon. »Das dauert höchstens drei Minuten.«
»Klar. Leg los.«
Er sah aus, als wolle er noch etwas anderes sagen, doch dann wandte er sich ab und begann, den Abhang zum Strand hinunterzuklettern. Ich blieb dicht hinter ihm. Die Landzunge war zwar recht steil, aber eher sandig als felsig, so dass der Abstieg sich als relativ einfach erwies. Als wir den Strand erreicht hatten, holte Simon ein kleines Notizbuch und einen Plastikbehälter aus dem Rucksack und lief zum Wasser. Das Meer hatte sich von dem Gewittersturm nicht ganz so schnell erholt wie der Himmel, so dass noch immer Wellen gegen die Küste schäumten. Ich behielt Simon im Auge, blieb aber am Hang stehen, um nichts von der Brandung abzubekommen.
Er nahm ein paar Wasserproben und kritzelte in sein Notizheft. Aus drei Minuten wurden fünf, dann sieben und dann neun.
Als zehn Minuten vergangen waren, wanderte ich ein Stück den Strand entlang, wobei ich mich alle paar Meter umdrehte, um sicherzugehen, dass Simon immer noch dawar und nicht in Schwierigkeiten steckte. Bei einer Gruppe flacher Felsen, die mir einen perfekten Blick auf Simon und das Meer erlaubten, balancierte ich von einem zum anderen, bis ich einen Platz zum Hinsetzen gefunden hatte.
Ich schloss die Augen, legte den Kopf in den Nacken und ließ mein Gesicht von der Sonne bescheinen. Ich musste mich unter Kontrolle bekommen. Eine Menge war passiert, und es passierte immer noch, aber das bedeutete nicht, dass ich mich widerstandslos von meinen Gefühlen überrollen und fortschwemmen lassen musste. Was immer ich für Simon empfand, war nur natürlich, wenn man bedachte, wie viel Zeit wir zusammen verbrachten, und dazu noch unter diesen extremen Umständen. Wahrscheinlich hätte ich etwas ganz Ähnliches für einen Feuerwehrmann empfunden, der mich aus einem brennenden Haus rettete, oder für einen Polizisten, der mir meine gestohlene Handtasche zurückbrachte. Irgendwann würden diese Gefühle von selbst wieder auf ein normales Level zurückkehren.
Ich schlug die Augen auf, als das kühle Wasser meine Schuhspitzen durchnässte – und alle Gedanken an Selbstkontrolle verflogen.
»Simon«, flüsterte ich heiser.
Ich wollte schreien, seinen Namen brüllen. Ich wollte vom Felsen springen, die Landzunge hochkraxeln und so weit weg von Camp Heroine fliehen wie möglich.
Aber das konnte ich nicht. In diesem Moment konnte ich gar nichts. Mein ganzer Körper war wie erstarrt, als sei ich in einem Block aus Hagelkörnern eingefroren.
»Simon«, versuchte ich es noch einmal. Meine Lippen bewegten sich kaum. »Simon.«
Er hätte mich eigentlich nicht hören können, aber trotzdem war er nur Sekunden später an meiner Seite.
»Vanessa? Was –«
Dann erstarrte er ebenfalls.
Ein lebloser Arm, verbunden mit einem leblosen Körper, schwamm im Wasser und streckte sich nach den Felsen aus. Der Tote trieb mit dem Gesicht nach unten, aber am Körperbau erkannte man, dass es sich um einen Mann handelte.
»Simon …« Meine Stimme war nur ein Hauch, und meine Augen füllten sich mit Tränen. »Das ist doch nicht …?«
»Nein«, sagte er grimmig. »Er ist zu groß. Außerdem trägt Caleb keine Armbanduhr.«
Mit Anstrengung bewegte ich meine Augen von der purpurroten Hand nach oben zu dem geschwollenen Handgelenk, an dem ein dickes Silberarmband in der Sonne glitzerte wie abgeschliffenes Glas im Spülschaum. Gleich darauf schlug eine hohe Welle an Land, deren Ausläufer an dem Felsen vorbeibrandeten, und der Tote wurde davon auf den Rücken gedreht.
Hastig wandte ich mich ab, und schon hatte Simon seine Arme um mich geschlungen, zog mich vom Felsen herunter und aus der Reichweite des Ertrunkenen. »Was ist mit ihm passiert?«, flüsterte ich in seine Schulter hinein, während mir die Tränen über die Wangen liefen. »Was ist mit seinem Gesicht passiert?«
Simon umarmte mich enger und legte eine Hand sanft auf meinen Hinterkopf,
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