Ocean Rose. Erwartung (German Edition)
verlor.
»Justines Bewerbungsaufsatz«, sagte ich mit klopfendem Herzen. Ich hatte ihn die ganze Zeit in meinem Portemonnaie herumgetragen, seit ich ihn von der Pinnwand genommen hatte. »Zu der Frage: Wer bin ich, und wer will ich später werden.«
Sie schaute mich verwirrt an. »Was soll … Wie hast du …«
»Justine hatte nicht vor, nach Dartmouth zu gehen. Sie hat sich nicht mal beworben.«
Mein Magen rumorte, als ihr neue Tränen in die Augen schossen, und einen Moment lang spürte ich beinahe Bedauern. Abgesehen von Justines Tod, war diese Nachrichtwohl die schlimmste, mit der man Mom konfrontieren konnte. Aber sie hatte mir gerade mehr oder weniger vorgeworfen, Justine das Leben verbittert und sie schließlich in den Abgrund gestoßen zu haben. Deshalb wollte ich ihr beweisen, dass sie Justine weniger gut kannte, als sie sich einbildete.
»Ich verstehe das nicht«, sagte sie und konnte den Blick nicht von dem Zettel abwenden. »Sie hat doch gesagt, sie sei angenommen worden. Sie hat das Dartmouth-Shirt getragen und den Regenschirm benutzt. Wir haben ihr das Sparkonto für ihre Ausbildung überschrieben, als sie achtzehn wurde, und sie hat sofort die Anzahlung ans College überwiesen.«
»Hast du jemals einen Bankauszug gesehen?«, fragte ich leise. »Oder einen Rückscheck von Dartmouth?«
»Bestimmt … oder vielleicht auch nicht. Mir kommt es schon so lange her vor. Ich kann mich nicht mehr erinnern. Aber ich weiß, dass ich damals gerade furchtbar viel Arbeit hatte, und Justine war so aufgeregt, also habe ich einfach angenommen …« Sie schüttelte den Kopf und blickte mich an. »Warum hätte sie lügen sollen?«
Ich runzelte die Stirn, und während ihr die Tränen langsam über die Wangen liefen, antwortete ich: »Da bin ich nicht sicher. «Kurz spielte ich mit dem Gedanken, ihr zu erklären, dass ich in Wahrheit nach Winter Harbor zurückgekehrt war, um genau das herauszufinden. Doch dann entschied ich mich dagegen. Ich wollte keine hitzige Diskussion über Caleb herausfordern oder Fragen ausweichen, die ich nicht beantworten konnte. Außerdem sah sie fast so am Boden zerstört aus wie vor wenigen Wochen beim Besuch der Polizeibeamten, die uns die schreckliche Nachricht überbracht hatten. Deshalb wollte ich jetzt doch nichts mehr sagen, wodurch sie sich noch schlechter gefühlt hätte.
Ich schaute durch den Saal und war überrascht, als an einem Tisch voller nicht mehr ganz junger Männer lautes Gelächter ausbrach. Unser bizarres Gespräch hatte mich so abgelenkt, dass ich ganz vergessen hatte, wo wir uns befanden und warum.
»Hier kommt das Frühstück: Rührei, Toast und zwei Tassen Kaffee.«
Ich drehte mich um, wobei ich feststellte, dass es meinem Kopf blendend ging.
»Kann ich sonst noch etwas bringen?«
Raina. Sie stand an unserem Tisch und hatte den Blick nur auf mich geheftet, während sie augenscheinlich mit uns beiden sprach. Heute trug sie ein kurzes grünes Sommerkleid, das ihre Sonnenbräune zur Geltung brachte – und ihre Kurven.
»Hallo Mrs … Miss Marchand«, sagte ich mit einem schnellen Seitenblick zu Mom. Sie war von Justines leerem Aufsatzformular noch immer so geschockt, dass sie den dampfenden Essensteller vor sich gar nicht bemerkte. »Was tun Sie denn hier?«
»Das Restaurant gehört mir«, sagte sie, und ihr falsches Lächeln wurde breiter. »Warum sollte ich nicht hier sein?«
»Stimmt. Klar. Sorry.« Ihre silbernen Augen schienen tödliche Laserstrahlen auf mich abzuschießen, und ich musste den Kopf abwenden. Dabei stellte ich fest, dass die Männergruppe am anderen Tisch aufgehört hatte zu lachen und Raina wie in Trance anstarrte.
»Wie geht’s Paige?«, fragte ich.
»Besser denn je.«
Mom schien Rainas Anwesenheit noch immer nicht bemerkt zu haben. »Mom«, sagte ich laut wie zu einer Schwerhörigen, »das hier ist Raina, die Mutter von Paige.«
Ich hielt den Atem an, als sie den Kopf hob.
»Wie schön, dass unsere Töchter zueinander gefunden haben«, erklärte sie und schaute gleich wieder nach unten auf das Blatt Papier.
Raina lächelte mich noch immer an. »Ist das alles?«
Mit brennenden Wangen nickte ich.
»Ich werde Paige deine Grüße ausrichten«, bemerkte sie noch über die Schulter, als sie sich auf den Weg durch den Saal machte. »Oh, und kommt auf jeden Fall zu unserem Stand beim Ersten Lighthouse-Wellness-Resort-Lichterfest! Das wird eine echte Sensation.«
»Mom«, flüsterte ich, als Raina in die Küche verschwunden war.
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