Ocean Rose. Verwandlung (German Edition)
ansah. Dann erhob ich mich hastig, denn es gab keine Angreifer, und außer mir befand sich nur eine einzige Person im Raum.
Willa. Sie saß in einer elfenbeinfarbenen Wanne mit Löwenfüßen. Ihr Rücken war kerzengerade, die Schultern angespannt. Sie schaute starr auf das offene Fenster gegenüber der Tür und bemerkte mich nicht. Zögernd ging ich auf sie zu, watete durch kalten grauen Nebel und sah, dass die Wanne mit blaugrünem Wasser gefüllt war. Die Oberfläche schäumte und sprudelte wild, als habe jemand unter den Fußbodendielen ein enormes Feuer entzündet. Wellen spritzten über den Wannenrand, und ich sprang erschrocken zurück, als Wasser auf meinem Bein landete. Doch es verbrannte mich nicht, sondern war so kalt wie der wabernde Nebel, in dem ich stand. Ein paar Grad weniger, und Willa hätte in einem Eisblock gesessen.
Tatsächlich saß sie dort wie festgefroren und regte sich selbst dann nicht, als ich um die Wanne herumging und direkt in ihrem Blickfeld stand.
Das lange weiße Haar hing ihr offen über die Schultern, die nicht länger weich gerundet aussahen, sondern so knochig wie bei unserer ersten Begegnung durch den dünnen Stoff ihres Nachthemds stachen. Ihre Arme waren spindeldürr, ihre Haut hatte eine graue Farbe. Zwei Tage zuvor war ihr Gesicht nur von oberflächlichen Falten durchzogen gewesen, aber nun wabbelte das Fleisch, und alles an ihr – die Augenlider, die Wangen und der Mund – hing nach unten, als wolle der Wannenabfluss sie wie ein Staubsauger in sich hineinsaugen.
Sie sah uralt aus. Krank. Müde. Das einzige Lebenszeichen war das Zucken ihrer Lippen, die stumm unverständliche Beschwörungsformeln zu murmeln schienen – und das Licht ihrer Augen. Sie waren fast vollständig unter den Schlupflidern verborgen, doch ich sah dennoch ihren Silberglanz. Unaufhörlich huschten sie hin und her, ohne zu blinzeln.
Ich stand nur da, zitternd vor Kälte und Furcht, und hatte keine Ahnung, was ich tun sollte. Willa machte nicht den Eindruck, als leide sie unter Schmerzen, aber was sagte das schon? Vielleicht stand sie unter einem hypnotischen Bann. Vielleicht hatten die Sirenen von Winter Harbor einen Weg gefunden, sie mit Gedankenkraft zu kontrollieren, wie sie es mit Betty taten. Vielleicht war das Ganze sogar als Falle für mich gedacht, und Willa war der Köder, so dass die Sirenen mich lokalisieren konnten.
Ich trat trotzdem näher und öffnete den Mund, um ihren Namen zu sagen. Doch da hörte das Druckgefühl in meinem Kopf plötzlich auf, und statt Willa sah ich Bilder vor mir: Raina und Zara, graues Wasser, ein rotes Ruderboot. Ein Paddel mit farbigen Aufklebern. Ein Mädchen mit toten Augen und schlaffem Mund, das auf dem Rücken einem wabernden Horizont entgegentrieb.
»Bin ich das?«, flüsterte ich. »Bin ich tatsächlich …«
»Vanessa.«
Die Bilder verschwanden.
»Was machst du hier?«, fuhr Willa mich an. Ihr klapperiger Körper zeichnete sich unter dem nassen Nachthemd ab, und sie versuchte mit den Armen ihre Blöße zu bedecken, während sie aufstand.
Als mein Blick wieder ganz klar geworden war, stellte ich fest, dass ihre Augenfarbe von Silber zu Blaugrün gewechselt hatte. Der Nebel war verschwunden, das Wasser in der Wanne brodelte nicht länger. Die Vorhänge hingen still und unbeweglich vor den Fenstern.
»Du solltest nicht hier sein.« Sie griff nach einem Bademantel, der neben der Wanne auf dem Fußboden lag. »Geh nach unten und warte auf mich. Jetzt «, fügte sie hinzu, als ich mich nicht gleich in Bewegung setzte.
Ich gehorchte. Fünf Minuten später kam sie mir ins Wohnzimmer nach. Sie hatte Jeans und einen Pulli übergezogen und das Haar in ein Handtuch gewickelt. Obwohl sie sich geschminkt hatte, sah ihr Gesicht immer noch aus, als sei sie in zwei Tagen um zehn Jahre gealtert.
»Wieso bist du nicht in der Schule?«, fragte sie und bewegte sich langsam durch den Raum, als würde ihr jeder Knochen schmerzen. Sie ließ sich mir gegenüber auf einem Stuhl nieder.
»Ich hatte gestern Abend eine wilde Knutscherei mit Parker King.«
Sie schaute mich verblüfft an. Diese Antwort hatte sie offenbar nicht erwartet, und eigentlich hatte ich auch nicht vorgehabt, damit herauszuplatzen. Aber wenn ich offen zu ihr war, würde sie vielleicht auch ehrlich zu mir sein.
»Der Junge, der mir etwas bedeutet«, zitierte ich sie. »Mit dem ich aber nicht zusammen bin.«
»Aha! Und wie ist das passiert?«
»Ich habe ihn eingeladen. Zu einem Date im
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