Ocean Rose. Verwandlung (German Edition)
Todesopfer gelächelt, dann wären die Reporter darauf eingegangen. So ein Detail war zu grotesk und journalistisch zu wertvoll, um es auszulassen. Ich faltete die Zeitung zusammen und schob sie unter das Tablett, um sie nicht mehr sehen zu müssen.
»Als du am Wochenende bei Betty warst, hat sie da vielleicht Andeutungen gemacht …?«
Paige griff nach ihrem Eistee und schob die Zitronenscheibe am Rand herum.
»Hat sie irgendetwas Seltsames gesagt? Ist doch möglich, dass sie Dinge bemerkt oder gehört hat …«
Paige schüttete sich Zucker in den Eistee und sah zu, wie die weißen Kristalle verschwanden.
»Tut mir leid«, sagte ich. »Mir ist klar, wie unangenehm das Thema für dich ist. Ich wollte nur …«
»Wenn Oma etwas gesagt hätte, was du wissen musst, dann hätte ich es dir wohl kaum verschwiegen, oder?«
Ich zuckte zurück. So hatte Paige noch nie mit mir gesprochen.
Sofort wurde ihre Miene schuldbewusst. »Tut mir leid. Ich benehme mich idiotisch. Aber das Wochenende war total anstrengend. Wie ich gestern im Auto gesagt habe, sind die Gefühle im Haus ziemlich hochgekocht, zuerst bei Betty, dann bei mir – und ich kann einfach noch nicht darüber reden.«
»Du musst auch nicht darüber reden. Wenn hier jemand idiotisch ist, dann ich. Das Problem ist, dass meine Phantasie bei solchen Meldungen immer gleich in eine bestimmte Richtung geht.« Ich zeigte mit einem Kopfnicken auf die Zeitungsecke, die unter dem Tablett hervorlugte. »Auch wenn solche Gedanken unlogisch und verrückt sind. Ich kann sie einfach nicht abstellen.«
Das Geräusch von zerbrechendem Glas ließ uns zusammenzucken. Da ich sofort an Willas Koffein-High und die verstreuten Servietten dachte, stand ich auf, um ihr zu helfen und nebenbei zu fragen, woher sie eigentlich meinen Namen kannte.
Aber diesmal war Willa gar nicht schuld gewesen, sondern der Barkeeper, von dem ich damals den Seetang bekommen hatte.
»Na klar«, knurrte er und fuchtelte mit den Händen in der Luft herum. »Das musste jetzt auch noch passieren. Als ob es nicht schon reicht, wenn eine gewisse Dame plötzlich was von Familienkrise erzählt und in der Mitte ihrer Schicht abhaut.«
Wütend vor sich hin murmelnd, griff er nach einem Besen und begann zu fegen. Ich schaute mich im Café um, dann ging ich zur Theke und warf auch einen Blick in die Küche.
Alle Mitarbeiter waren anwesend. Nur Willa nicht.
»Vanessa«, fragte Paige, als ich mich der Tür zuwandte, »wo willst du denn hin?«
»Bin gleich zurück«, rief ich über die Schulter.
Draußen schaute ich zu beiden Seiten die Straße entlang, doch Willa war nirgends zu entdecken. Ich lief los, fand eine schmale Seitengasse und rannte zwischen schmutzigen Backsteinfassaden hindurch. Als ich den Block umrundet hatte, standen rechts und links Geschäftshäuser, und der Blick auf die Rückseite der Kaffeebohne war durch einen hohen Zaun versperrt. Ich hetzte weiter durch die Gasse, wich Mülltonnen und Unrat aus und erreichte eine breitere Straße mit Bürgersteig. Neben mir befand sich eine Pizzeria, bei der ein Angestellter gerade die Fenster putzte und mir einen bewundernden Blick zuwarf. Ich ignorierte ihn, bog links ab – und rannte fast von hinten in einen Mann hinein.
Zwar hatte er mir den Rücken zugewandt, aber ich erkannte die krisselige graue Haarmähne und den roten Strickpulli, der unter seiner Jacke hervorschaute.
Dad spazierte durch die Innenstadt, und zwar mitten am Tag, obwohl er uns erst beim Frühstück erzählt hatte, was für eine geniale Vorlesung über Thoreau er um diese Uhrzeit halten würde.
Ich wollte ihn gerade ansprechen, als er den Arm hob und jemandem zuwinkte. Mit einigen Metern Abstand folgte ich ihm und hielt mich dicht an den Häusermauern, damit ich notfalls schnell in einen Eingang verschwinden konnte, falls er sich umschaute.
B estimmt trifft er sich nur mit Mom , redete ich mir ein. Oder mit einem Kollegen. Kann doch sein, dass seine Vorlesung ausfallen musste und er sich spontan zum Mittagessen verabredet hat.
Als er schließlich stehen blieb, befand ich mich vor einem Laden mit Secondhand-Kleidung. Ein großer Ständer voller Winterjacken ragte auf den Bürgersteig hinaus. Ich griff nach einem taillierten rosafarbenen Mantel und hielt ihn vor mich, so dass mein Gesicht und mein Oberkörper verdeckt waren. Dann linste ich vorsichtig um ihn herum. Eine Menschengruppe, die auf den Bus wartete, versperrte mir die Sicht, doch zwischen den Köpfen und Schultern
Weitere Kostenlose Bücher