Ocean Rose. Verwandlung (German Edition)
Badesaison vorbei war und die Skisaison noch nicht begonnen hatte, waren die Straßen touristenleer und die Stühle vor den Restaurants und Läden weggeräumt. Ich war noch nie zu dieser Jahreszeit in Winter Harbor gewesen und hatte es mir nicht derartig ausgestorben und verlassen vorgestellt.
Da ich es kaum erwarten konnte, unter Menschen zu kommen, fuhr ich direkt zu Bettys Haus. Es wirkte ebenfalls verändert. Die türkis gestrichenen Wände sahen vernachlässigt aus, die Farbe begann überall abzublättern. Die lange Veranda hing in der Mitte durch, und hier und da fehlten einzelne Latten. Auch einige Fensterläden lagen abgerissen auf dem Boden, die restlichen sahen aus, als würden sie bald aus den Angeln fallen. Man hatte den Eindruck, als sei ein Hurrikan durchgezogen, habe das ganze Gebäude durchgeschüttelt und in diesem kläglichen Zustand zurückgelassen.
Wenn ich an die plötzlichen unnatürlichen Stürme im Sommer dachte, war das vielleicht gar nicht so abwegig.
Ich parkte den Wagen, rannte über die Wiese und die Eingangsstufen hinauf. Während der sechsstündigen Fahrt hatte ich mir bereits überlegt, was ich sagen wollte, aber nun nahm ich mir noch einmal die Zeit, alles im Kopf durchzugehen. Gerade wollte ich auf den Klingelknopf drücken …
»Was machst du hier?«
Ich sprang zurück und musste nach dem Geländer greifen, um nicht von der Treppe zu fallen. Oliver hatte ohne Vorwarnung die Tür aufgerissen. Er sah wütend aus, und ich wollte mich gerade dafür entschuldigen, dass ich unangekündigt hereinplatzte, als er weitersprach.
»Sie haben nichts davon gesagt, dass du kommst.« Seine Augen waren auf etwas Unsichtbares hinter mir gerichtet und zuckten unruhig hin und her. »Sie haben nichts davon gesagt, und in diesem Haus ist kein Platz für dich.«
»Das ist schon okay.« Ich folgte ihm, als er auf dem Absatz kehrtmachte und nach drinnen verschwand. »Ich habe niemandem erzählt, dass ich euch besuchen will, und ich bleibe auch nicht lange. Ich wollte nur Betty die neuesten Nachrichten von Paige bringen.«
Er blieb abrupt stehen und fuhr zu mir herum. Sein Blick huschte noch immer hin und her, scheinbar ohne mich oder sonst etwas im Raum zu sehen. Er stand gebeugt, als würde ihn eine schwere unsichtbare Last zu Boden drücken. Sein Mund war schlaff und weit geöffnet.
»Betty geht es gut«, sagte er mit einer hohlen Stimme, die gar nicht wie seine eigene klang. »Sie braucht deine Hilfe nicht. Die Leute sollten aufhören, sich Sorgen um sie zu machen, und sich um wichtigere Dinge kümmern.«
Ich reagierte auf den versteckten Vorwurf, indem ich noch einmal meine Gründe aufzählte, warum ich hier war, aber er drehte mir mitten im Satz den Rücken zu. Schlurfend ging er durchs Wohnzimmer zur Küche, wobei er vor sich hin murmelte und an seinen Hörgeräten fummelte. Ich blieb stehen und wartete darauf, dass er zurückkommen würde, aber dann hörte ich in der Ferne das leise Zuklicken einer Tür, und seine Stimme verstummte.
In den letzten Tagen hatte mich der Durst weniger als sonst geplagt, doch nun war mein Mund trocken und meine Kehle wie verdorrt. Zuerst wollte ich Oliver folgen, dann entschied ich, dass nun die perfekte Gelegenheit war, allein mit Betty zu reden. Also ging ich mit schwachen Beinen auf die Treppe zu. Gleichzeitig zog ich das Handy aus meiner Jeanstasche und tippte schnell eine Nachricht.
Simon, ich weiß, dass Du sauer bist. Versteh ich total. Aber in WH passieren seltsame Dinge, und wir müssen reden. Ruf mich bitte an.
Gerade als ich die SMS abgeschickt hatte, stieß mein rechtes Knie gegen etwas Hartes. Ich zuckte zurück und biss mir vor Schmerz auf die Lippe. Jetzt erst fiel mir auf, wie es hier im Wohnzimmer aussah.
Die Vorhänge lagen als zerfetzte Stoffhaufen unter den Fenstern. Der Teppich war zerschnitten, die Stühle und das Sofa umgeworfen, die Polsterung herausgerissen, die Holzbeine abgehackt. Der Couchtisch bestand nur noch aus Splittern, und neben dem Platz, wo er einmal hingehört hatte, war eine Axt mit der Schneide in den Holzfußboden gerammt.
Bestimmt dekorieren sie nur um – das alte Haus kann eine Renovierung vertragen.
Den ganzen Weg nach oben und den Flur entlang fuhr ich fort, mir harmlose Erklärungen auszudenken, denn sonst hätten sich meine Füße geweigert, auch nur einen Schritt zu tun.
Bestimmt hatte Betty einen einleuchtenden Grund, Paige nicht im Krankenhaus zu besuchen. Vielleicht ging es ihr selbst nicht gut, oder
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