Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Oceano Mare - Das Märchen vom Wesen des Meeres

Oceano Mare - Das Märchen vom Wesen des Meeres

Titel: Oceano Mare - Das Märchen vom Wesen des Meeres Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alessandro Baricco
Vom Netzwerk:
Verzweiflung den logischen Faden der Ausrottung nicht zu verlieren. Aus den Augen dieses Mannes, die mich jetzt ansehen, als sei ich ein Traum, habe ich tausendmal, mit Haß und Bewunderung, die Merkmale einer grauenhaften Genialität herausgelesen.
    Wir versuchten, uns zu wehren. Aber das war unmöglich. Den Schwachen bleibt nichts als die Flucht. Und von einem im Meer hilflos treibenden Floß kann man nicht fliehen. Tagsüber kämpfte man gegen den Hunger, die Verzweiflung, den Wahnsinn. Dann brach die Nacht herein, und der immer müder werdende, zermürbende Krieg mit immer schleppender werdenden Gesten, geführt von sterbenden Mördern und todgeweihten Bestien, flammte wieder auf. Bei Sonnenaufgang nährten neue Tote die Hoffnung der Lebenden und ihren grausamen Rettungsplan. Ich weiß nicht, wie lange das alles schon dauerte. Doch früher oder später mußte es auf irgendeine Weise ein Ende nehmen. Und es nahm ein Ende. Das Wasser, der Wein, das Wenige, was noch zu essen da war, ging zu Ende. Kein Schiff war gekommen, uns zu retten. Es blieb keine Zeit mehr für irgendwelche Berechnungen. Es gab nichts mehr, für das man sich gegenseitig umbringen müßte. Ich sah zwei Offiziere, die ihre Waffen ins Wasser warfen und sich stundenlang wie besessen in dem Meerwasser wuschen. Sie wollten reingewaschen sterben. Das war alles, was von ihrem Ehrgeiz und ihrer Intelligenz übrigblieb. Alles umsonst. Das Massaker, ihre Schändlichkeit, unsere Wut. Alles vollkommen umsonst. Weder Intelligenz noch Mut können das Schicksal aufhalten. Ich erinnere mich, daß ich nach Savignys Gesicht Ausschau hielt. Und blickte schließlich in das Gesicht eines Besiegten. Heute weiß ich, daß selbst am Abgrund des Todes die Gesichter der Menschen heuchlerisch bleiben.
    In jener Nacht öffnete ich, von einem Geräusch geweckt, die Augen und erkannte im ungewissen Licht des Mondes die Umrisse eines Mannes vor mir. Instinktiv faßte ich nach dem Messer und richtete es auf ihn. Der Mann blieb stehen. Ich wußte nicht, ob es Einbildung war, ob es ein Alptraum war oder was es war. Ich mußte unbedingt die Augen offen halten. Ich rührte mich nicht. Sekunden, Minuten, ich weiß nicht. Da wandte der Mann sich ab. Und ich sah zwei Dinge. Das Gesicht, und es gehörte Savigny, und einen Säbel, der die Luft durchschnitt und auf mich niedersauste. Es war nur ein Augenblick. Ich wußte nicht, ob es Einbildung war, ob es ein Alptraum war oder was es war. Ich spürte keinen Schmerz, gar nichts. Es war auch kein Blut an mir. Der Mann verschwand. Ich rührte mich nicht. Erst nach einer Weile wandte ich mich zur Seite und sah: Thérèse lag am Boden neben mir mit einer klaffenden Wunde in der Brust und weit aufgerissenen Augen, die mich erstaunt anschauten.
    Nein. Das durfte nicht wahr sein. Nein. Jetzt, wo alles vorbei war. Warum? Es wird wohl doch Einbildung, ein Alptraum sein, das kann er nicht wirklich getan haben. Nein. Nicht jetzt. Warum jetzt?
    »Leb wohl, mein Geliebter.«
    »O nein, nein, nein, nein.«
    »Leb wohl.«
    »Du wirst nicht sterben, ich schwör’s dir.«
    »Leb wohl.«
    »Bitte, stirb nicht …«
    »Laß mich.«
    »Du wirst nicht sterben.«
    »Laß mich.«
    »Wir werden uns retten, das mußt du mir glauben.«
    »Mein Geliebter …«
    »Stirb nicht.«
    »Mein Geliebter.«
    »Nicht sterben. Nicht sterben. Nicht sterben.«
    Überlaut war das Geräusch des Meeres. So laut, wie ich es nie gehört hatte. Ich nahm sie auf meine Arme und schleppte mich bis an den Rand des Floßes. Ich ließ sie ins Wasser gleiten. Ich wollte nicht, daß sie in dieser Hölle bliebe. Und wenn es keine Handbreit Erde gab, die über ihren Frieden wachen konnte, dann sollte das tiefe Meer sie zu sich nehmen. Unermeßlicher Totengarten ohne Kreuze, ohne Grenzen. Sie glitt davon wie eine Welle, nur schöner als die anderen.
    Ich weiß nicht. Es ist schwer, das alles zu begreifen. Wenn ich ein Leben vor mir hätte, würde ich es vielleicht damit verbringen, diese Geschichte zu erzählen, ohne jemals aufzuhören, tausendmal, bis ich sie eines Tages verstehen könnte. Doch vor mir habe ich bloß einen Mann, der auf mein Messer wartet. Und Meer, Meer, Meer.
    Der einzige Mensch, der mir wirklich etwas beigebracht hat, ein alter Mann namens Darrell, sagte immer, es gäbe drei Sorten Menschen: die vor dem Meer leben, die ins Meer eindringen, und die, denen es gelingt, lebend aus dem Meer heimzukehren. Und er sagte: Du sollst mal sehen, was das für eine Überraschung ist,

Weitere Kostenlose Bücher