Oceano Mare - Das Märchen vom Wesen des Meeres
Floß zusammenhielten. Das war wie ein Signal. Ein wilder Kampf entbrannte. Es war finster, der Mond kam nur zeitweise zwischen den Wolken durch. Ich hörte Gewehrschüsse, und in den blitzartigen Lichtfetzen sah ich Männer wie Spukgestalten, die übereinander herfielen, und Kadaver und Säbel, die blind umherhieben. Schreie, wütendes Gebrüll und Geheul. Ich hatte bloß ein Messer: dasselbe, das ich jetzt dem Mann dort, der nicht mehr die Kraft hat wegzulaufen, ins Herz stechen werde. Ich packte es, aber ich wußte nicht, wer der Feind war, ich wollte nicht töten, ich verstand das alles nicht. Dann kam der Mond wieder heraus, und ich sah: einen unbewaffneten Mann, der sich an Savigny, den Arzt, klammerte und um Gnade schrie, Gnade, Gnade, und auch nicht aufhörte zu schreien, als der erste Säbelhieb ihm in den Leib fuhr, und dann der zweite und der dritte … Ich sah ihn zu Boden stürzen. Ich sah Savignys Gesicht. Und ich begriff. Wer der Feind war. Und daß der Feind siegen würde.
Als es in einem schreckenerregenden Morgengrauen hell wurde, lagen Dutzende grausam verstümmelter Kadaver und überall sterbende Menschen auf dem Floß. Um den Kasten herum bewachten etwa dreißig bewaffnete Männer die Vorräte. In den Augen der Offiziere lag eine Art euphorischer Gewißheit. Sie streiften mit gezogenem Säbel über das Floß, beruhigten die Überlebenden und warfen die Sterbenden ins Wasser. Niemand wagte, etwas zu sagen. Das Grausen und die Verwirrung über jene Nacht voller Haß ließ alle verstummen und versteinern. Niemand hatte bisher wirklich begriffen, was eigentlich passiert war. Ich schaute mir das alles an und dachte: wenn es so weitergeht, brauchen wir uns keine Hoffnungen zu machen. Der älteste Offizier hieß Dupont. Er ging dicht an mir vorbei, in seiner blutbeschmutzten Uniform, schwatzte etwas von Soldatenpflichten und ich weiß nicht, was sonst noch. Er hatte eine Pistole in der Hand und den Säbel in der Scheide. Eine Sekunde lang drehte er mir den Rücken zu. Ich wußte, daß er mir keine neue Gelegenheit mehr geben würde. Noch bevor er aufschreien konnte, hatte ich ihm mein Messer an die Kehle gesetzt und ihn so bewegungsunfähig gemacht. Von dem Kasten aus zielten die Männer mit ihren Gewehren instinktiv auf uns. Sie hätten auch abgedrückt, wenn Savigny ihnen nicht lauthals Einhalt geboten hätte. In der Stille war ich es dann, der das Wort ergriff, während ich weiter das Messer an Duponts Kehle preßte. Und ich sagte: »Sie sind dabei, uns alle umzubringen, einen nach dem anderen. Und sie werden damit nicht aufhören, bis nur sie noch übrigbleiben. Diese Nacht haben sie euch betrunken gemacht. Aber in der kommenden werden sie weder Alibis noch Unterstützung brauchen. Sie haben die Waffen, und wir sind nicht mehr viele. Wenn es dunkel ist, werden sie machen, was sie wollen. Ob ihr mir glaubt oder nicht, so ist es. Es sind nicht genügend Vorräte für alle da, und sie wissen es. Sie werden nicht einen Mann mehr am Leben lassen, als ihnen nützlich ist. Ob ihr mir glaubt oder nicht, so ist es.«
Die Männer um mich herum waren völlig ratlos. Der Hunger, der Durst, die nächtliche Schlacht, das Meer, das nie aufhörte zu tanzen … Sie versuchten nachzudenken, sie wollten es begreifen. Es ist schwer sich vorzustellen, daß man dort, hilflos gegen den Tod ankämpfend, einen weiteren Feind entdecken muß, einen ärgeren gar: Männer wie du und ich. Gegen dich. Irgendwie lag etwas Absurdes in alldem. Und dennoch stimmte es. Einer nach dem anderen umringten sie mich. Savigny brüllte Flüche und Befehle. Aber niemand hörte auf ihn. So idiotisch es auch war, auf dem im Meer hilflos treibenden Floß hatte ein Krieg begonnen. Wir lieferten Dupont, den Offizier, lebend aus im Tausch gegen ein paar Lebensmittel und Waffen. Wir zogen uns in eine Ecke des Floßes zurück. Und warteten auf die Nacht. Thérèse behielt ich dicht bei mir. Sie sagte mir immer wieder: Ich habe keine Angst. Ich habe keine Angst. Ich habe keine Angst.
An jene Nacht und die weiteren, die noch folgten, will ich mich nicht erinnern. Ein methodisches, bewußtes Abschlachten. Je mehr Zeit verging, um so mehr war es unabdingbar, so wenige wie möglich zu sein, um überleben zu können. Und sie töteten auf eine wissenschaftliche Art und Weise. Da war etwas, das mich faszinierte an dieser kalkulierten Kaltblütigkeit, an dieser gnadenlosen Intelligenz. Es bedurfte eines außergewöhnlichen Verstandes, um in der allgemeinen
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