Oceano Mare - Das Märchen vom Wesen des Meeres
wenn du entdeckst, welche die glücklichsten sind. Damals war ich noch ein Junge. Im Winter schaute ich mir die Schiffe an, die, von enormen Holzstelzen gehalten, auf dem Trockenen lagen, den Rumpf in die Luft gereckt und den Kiel in den Sand gebohrt wie eine unnütze Klinge. Und ich dachte: Hier werde ich nicht bleiben. Ich will bis ins Meer hinein vordringen. Denn wenn es etwas gibt, was wahr ist auf dieser Welt, dann ist es dort unten. Da unten bin ich jetzt, ganz tief im Leib des Meeres. Ich bin noch am Leben, weil ich erbarmungslos getötet habe, weil ich das von den Kadavern meiner Gefährten abgelöste Fleisch esse, weil ich ihr Blut getrunken habe. Ich habe eine Unmenge von Dingen erlebt, die vom Meeresufer aus unsichtbar sind. Ich habe erfahren, was wirkliches Verlangen und was Angst ist. Ich habe gesehen, wie Männer zerbrochen sind und sich in Kinder verwandelt haben. Und sich noch einmal verwandelt haben und zu wilden Bestien geworden sind. Ich habe erlebt, wie wunderbare Träume geträumt wurden, und habe den schönsten Geschichten meines Lebens gelauscht, die irgendwelche Männer erzählten, kurz bevor sie sich in die Flut gestürzt haben und für immer versunken sind. Am Himmel habe ich Zeichen gelesen, die ich nicht kannte, und den Horizont angestarrt mit Augen, die ich nicht zu haben glaubte. Was Haß wirklich bedeutet, habe ich auf diesen blutbesudelten Planken begriffen, auf denen das Meerwasser die Wunden faulen ließ. Und was Barmherzigkeit ist, wußte ich nicht, bevor ich sah, wie unsere Mörderhände stundenlang über die Haare eines Gefährten streichelten, der nicht sterben konnte. In den Fußtritten, mit denen die Sterbenden über Bord gestoßen wurden, habe ich die Grausamkeit gesehen, die Zärtlichkeit habe ich in Gilberts Augen gesehen, als er seinen kleinen Leon küßte, die Intelligenz habe ich in den Gesten gesehen, mit denen Savigny an seinem Massaker feilte, und den Wahnsinn habe ich in den beiden Männern gesehen, die eines Morgens die Flügel ausgebreitet haben und in den Himmel davongeflogen sind. Und sollte ich noch tausend Jahre leben, Liebe wäre der Name für die leichte Last von Thérèse auf meinen Armen, bevor sie in die Wellen glitt. Und Schicksal wäre der Name für dieses unendliche, schöne Ozean Meer. Ich hatte mich nicht geirrt, in jenen Wintern an der Küste, als ich glaubte, daß hier die Wahrheit steckt. Jahre habe ich gebraucht, um bis auf den Grund des Meeresleibes vorzudringen: Doch was ich suchte, habe ich gefunden. Die Wahrheiten. Selbst diejenige, die von allen am unerträglichsten und am grausamsten wahr ist. Dieses Meer ist ein Spiegel. Hier, in seinem Leib, habe ich mich selbst gesehen. Mich wahrhaftig gesehen.
Ich weiß nicht. Wenn ich ein Leben vor mir hätte – ich, der ich mich anschicke zu sterben –, würde ich es damit verbringen, diese Geschichte zu erzählen, ohne jemals aufzuhören, tausendmal, um herauszubekommen, was es bedeutet, daß die Wahrheit sich allein dem Grauen verschreibt und daß wir, um zu ihr zu gelangen, durch diese Hölle gehen mußten; um sie zu erkennen, mußten wir uns gegenseitig vernichten, um sie zu besitzen, mußten wir wilde Tiere werden, um sie ans Licht zu bringen, mußten wir vor Schmerz zerbrechen. Und um wahr zu sein, mußten wir sterben. Warum? Warum werden die Dinge erst im Würgegriff der Verzweiflung wahr? Wer hat die Welt auf diese Weise verdreht, daß die Wahrheit auf der dunklen Seite stehen muß, und warum ist der schändliche Sumpf einer verstoßenen Menschheit der einzige, eklige Boden, in dem das wächst, was einzig nicht aus Lüge besteht? Und endlich: Was ist das für eine Wahrheit, die nach Aas stinkt und im Blut gedeiht, sich von Schmerz nährt und auflebt, wo der Mensch sich demütigt und triumphiert, wo der Mensch verfault? Wessen Wahrheit ist das? Ist es eine Wahrheit für uns? Dort an der Küste, in jenen Wintern, stellte ich mir eine Wahrheit vor, die Ruhe war und Hort, die Trost war, Güte und Sanftmut. Eine für uns gemachte Wahrheit. Die auf uns warten und sich über uns beugen würde wie eine wiedergefundene Mutter. Aber hier, im Leib des Meeres, habe ich die Wahrheit sorgfältig und vollkommen ihr Nest bauen sehen: Und was ich gesehen habe, ist ein Raubvogel, herrlich anzusehen im Flug und wild. Ich weiß nicht. Das war es nicht, was ich mir im Winter erträumt hatte, als ich davon träumte.
Darrell war einer von denen, die heimgekehrt waren. Er hatte den Leib des Meeres gesehen, er war
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