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Oceano Mare - Das Märchen vom Wesen des Meeres

Oceano Mare - Das Märchen vom Wesen des Meeres

Titel: Oceano Mare - Das Märchen vom Wesen des Meeres Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alessandro Baricco
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hier gewesen, aber er war heimgekehrt. Er sei ein Liebling des Himmels, sagten die Leute. Er hatte zwei Schiffbrüche überlebt und, so sagte man, beim zweiten Mal in einem winzigen Boot mehr als dreitausend Meilen zurückgelegt, bevor er Land fand. Tagelang im Leib des Meeres. Dann war er heimgekommen. Deshalb sagten die Leute: Darrell ist weise, Darrell hat gesehen, Darrell weiß. Ich verbrachte meine Tage damit, ihm zuzuhören, wenn er erzählte: Aber vom Leib des Meeres hat er mir nie etwas gesagt. Es behagte ihm nicht, darüber zu sprechen. Es behagte ihm nicht einmal, daß die Leute ihn als wissend und weise bezeichneten. Vor allen Dingen ertrug er es nicht, wenn jemand von ihm sagte, er hätte sich gerettet. Er konnte es nicht hören, dieses Wort: gerettet. Er senkte den Kopf und blinzelte auf eine Weise, die man unmöglich vergessen konnte. In jenen Augenblicken schaute ich ihn an und konnte es nicht benennen, was ich da in seiner Miene las und, so viel wußte ich, sein Geheimnis war. Tausendmal bin ich dem Namen nahegekommen. Hier auf diesem Floß, im Leib des Meeres, habe ich ihn gefunden. Und nun weiß ich, daß Darrell ein wissender und weiser Mann war. Ein Mann, der gesehen hatte. Aber vor allem anderen und im Tiefsten jedes seiner Augenblicke war er ein untröstlicher Mann. Das hat der Leib des Meeres mich gelehrt. Daß, wer die Wahrheit gesehen hat, für immer untröstlich bleiben wird. Und wirklich gerettet ist nur der, der niemals in Gefahr war. Selbst wenn jetzt ein Schiff am Horizont auftauchte und auf den Wellen bis hierher eilte und einen Augenblick vor unserem Tod einträfe und uns aufnähme und uns lebendig, lebendig heimkehren ließe: es wäre dennoch nicht das, was uns wirklich retten könnte. Selbst wenn wir irgendwann irgendwo Land sehen, wir werden nie wieder gerettet sein. Denn was wir gesehen haben, wird in unseren Augen bleiben, was wir getan haben, wird in unseren Händen bleiben, und was wir gefühlt haben, wird in unseren Seelen bleiben. Und für immer werden wir, die wir die wahren Dinge erlebt haben, für immer, wir Söhne des Grauens, für immer, wir Heimkehrer aus dem Leib des Meeres, für immer, wir Wissenden und Weisen, für immer – werden wir untröstlich sein.
    Untröstlich.
    Untröstlich.
    Auf dem Floß herrscht tiefe Stille. Savigny öffnet ab und zu die Augen und schaut mich an. Wir sind dem Tod so nah, wir sind so tief im Leib des Meeres, daß nicht einmal die Gesichter mehr lügen können. Seines ist so wahr. Angst, Erschöpfung und Abscheu. Wer weiß, was er in dem meinen liest. Er ist mir inzwischen so nah, daß ich manchmal seinen Geruch wahrnehme. Ich werde mich jetzt dahin schleifen und ihm mit meinem Messer das Herz brechen. Welch seltsames Duell. Tagelang haben wir uns, auf einem dem Meer preisgegebenen Floß, inmitten der verschiedensten Möglichkeiten zu sterben, immer wieder aufgelauert und angegriffen. Immer ausgelaugter, immer schleppender. Und nun scheint dieser letzte Dolchstoß eine Ewigkeit zu dauern. Aber das wird er nicht. Ich schwör’s. Kein Schicksal sollte sich das anmaßen: Wie allmächtig es auch immer sein mag, es wird nicht rechtzeitig eintreffen, um dieses Duell zu beenden. Er wird nicht sterben, bevor er getötet wird. Und bevor ich sterbe, werde ich ihn töten. Das ist es, was mir bleibt: die leichte Last von Thérèse, eingeprägt wie ein unauslöschlicher Abdruck auf meinen Armen, und die Notwendigkeit, das Verlangen nach einer wie auch immer gearteten Gerechtigkeit. Dieses Meer soll wissen, daß ich sie bekomme. Jedes Meer soll wissen, daß ich vor ihm ans Ziel komme. Und nicht in seine Wellen wird Savigny bezahlen: sondern in meine Hände.
    Auf dem Floß herrscht tiefe Stille. Überlaut ist nur der Lärm des Meeres zu hören. 
     
    Das erste ist mein Name, das zweite jene Augen, das dritte ein Gedanke, das vierte die hereinbrechende Nacht, das fünfte die geschundenen Körper, das sechste ist Hunger, das siebte Grauen, das achte die Gespenster des Irrsinns, das neunte ist Fleisch, und das zehnte ist ein Mann, der mich anschaut und mich nicht umbringt.
    Das letzte ist ein Segel.
    Weiß. Am Horizont.

 
     
     
Drittes Buch
     
Gesänge der Heimkehr

1. Elisewin
     
    Auf der Kante des Erdensaums, einen Schritt nur vom stürmischen Meer, ruhte reglos die Pension Almayer, versunken im Dunkel der Nacht, wie ein Bild, ein Liebespfand im Dunkel einer Schublade.
    Obgleich das Abendessen seit geraumer Zeit beendet war, hielten sich

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