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Oceano Mare - Das Märchen vom Wesen des Meeres

Oceano Mare - Das Märchen vom Wesen des Meeres

Titel: Oceano Mare - Das Märchen vom Wesen des Meeres Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alessandro Baricco
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unerklärlicherweise immer noch alle im großen Kaminzimmer auf. Das Toben des Meeres dort draußen beunruhigte die Gemüter und verwirrte die Gedanken.
    »Ich will ja nichts sagen, aber ob es nicht angebracht wäre …«
    »Machen Sie sich keine Sorgen, Bartleboom, für gewöhnlich erleiden Pensionen keinen Schiffbruch.«
    »Für gewöhnlich? Was soll das heißen, für gewöhnlich?«
    Das Seltsamste aber waren die Kinder. Alle standen sie, die Nasen an die Fensterscheiben gepreßt, merkwürdig schweigsam da und starrten nach draußen in die Dunkelheit: Dood, der auf Bartlebooms Fensterbank lebte, und Ditz, der Pater Pluche Träume schenkte, und Dol, der für Plasson Schiffe entdeckte. Und Dira. Und sogar das Kind, das wunderschöne, das in Ann Deveriàs Bett schlief und das noch niemand in der Pension zu Gesicht bekommen hatte. Alle waren sie wie hypnotisiert von wer weiß was, schweigsam und angespannt.
    »Sie sind wie kleine Tiere, glauben Sie mir. Sie spüren die Gefahr. Das ist ihr Instinkt.«
    »Plasson, wenn Sie sich doch ein wenig Mühe geben wollten, Ihren Freund da zu beruhigen …«
    »Ich finde, das kleine Mädchen ist wunderschön …«
    »Versuchen Sie’s doch mal, Madame.«
    »Ich habe es absolut nicht nötig, daß sich jemand die Mühe macht, mich zu beruhigen, denn ich bin völlig entspannt.«
    »Entspannt?«
    »Vollkommen.«
    »Elisewin … ist sie nicht wunderschön? … Man könnte glauben …«
    »Pater Pluche, du sollst aufhören, ständig nach den Frauen zu schauen.«
    »Das ist keine Frau …«
    »Sie ist wohl eine Frau.«
    »Aber eine kleine …«
    »Sagen wir, daß mein gesunder Menschenverstand mir zur rechten Vorsicht rät bei der Einschätzung …«
    »Das hat nichts mit gesundem Menschenverstand zu tun. Sondern mit Angst, das ist doch sonnenklar.«
    »Das stimmt nicht.«
    »Doch.«
    »Nein.«
    »Gewiß doch.«
    »Gewiß nicht.«
    »Ach, Schluß damit. Sie wollen wohl noch stundenlang so weiterreden. Ich ziehe mich jetzt zurück.«
    »Gute Nacht, Madame«, sagten alle.
    »Gute Nacht«, antwortete Ann Deverià etwas zerstreut, erhob sich aber nicht aus ihrem Sessel. Sie veränderte nicht einmal ihre Haltung. Sie blieb, ohne sich zu rühren, einfach da. Als wäre nichts geschehen. Wirklich: eine merkwürdige Nacht war das.
    Womöglich hätten sich am Ende doch noch alle in die Normalität einer beliebigen Nacht ergeben, wären einer nach dem anderen auf ihre Zimmer gegangen und sogar trotz des unermüdlichen Lärmens des stürmischen Meeres eingeschlafen, ein jeder eingemummt in seine Träume oder verborgen in einem wortlosen Schlaf. Womöglich hätte es am Ende doch noch eine beliebige Nacht werden können. Doch dazu kam es nicht.
    Die erste, die ihre Augen von den Fensterscheiben löste, sich abrupt umdrehte und aus dem Zimmer lief, war Dira. Die anderen Kinder folgten ihr ohne ein Wort. Plasson blickte entgeistert zu Bartleboom hinüber, der entgeistert zu Pater Pluche hinüberblickte, der entgeistert zu Elisewin hinüberblickte, die entgeistert zu Ann Deverià hinüberblickte, die weiter vor sich hin blickte. Wenn auch mit einem unmerklichen Erstaunen. Als die Kinder wieder in den Saal kamen, trugen sie Laternen in der Hand. Dira zündete sie eine nach der anderen auf eine merkwürdig fieberhafte Art an.
    »Ist was passiert?« fragte Bartleboom höflich.
    »Hier, nehmen Sie«, antwortete ihm Dood und reichte ihm eine angezündete Laterne. »Und Sie, Plasson, nehmen Sie die hier, schnell.«
    Man blickte überhaupt nicht mehr durch. Jeder hatte plötzlich eine brennende Laterne in der Hand. Niemand gab Erklärungen ab, die Kinder rannten hin und her, als seien sie von einer unverständlichen Aufgeregtheit überwältigt. Pater Pluche starrte wie hypnotisiert auf das Flämmchen seiner Laterne. Bartleboom murmelte undeutliche Protestlaute. Ann Deverià erhob sich aus ihrem Sessel. Elisewin bemerkte, daß sie zitterte. In dem Augenblick wurde die große Glastür, die zur Strandseite ging, aufgerissen. Wie in den Saal hineinkatapultiert, begann ein wütender Sturm um alles und alle herum zu wirbeln. Die Gesichter der Kinder leuchteten auf. Und Dira sagte:
    »Schnell … hier durch!«
    Sie rannte, ihre Laterne in der Hand, durch die aufgerissene Tür ins Freie.
    »Los, los … raus hier, raus!«
    Die Kinder schrien. Aber nicht vor Angst. Sie schrien, um das Getöse des Sturms und des Meeres zu übertönen. Und da war eine Art Freude – unerklärlicher Freude –, die in ihren Stimmen

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