Ochajon 02 - Am Anfang war das Wort
ferne waren weibliche Stimmen zu hören und das Geräusch von zerbrechendem Glas. Arie Klein wandte den Kopf und lauschte, lächelte entschuldigend und nahm geräuschvoll einen Schluck aus seiner Kaffeetasse, der ein Henkel fehlte.
»Ich wollte Ihnen erzählen, daß Ido mich in New York besucht hat, eigentlich hat er sogar bei uns gewohnt, in unserer Wohnung in Port Skyler, am Rand der Stadt. Ein großes, altes Haus, das meinem Onkel gehört, der damals gerade in Israel war. Ido war zweimal bei uns: eine Woche am Anfang seines Aufenthalts in Amerika, das zweite Mal drei Tage bevor er nach Israel zurückgekehrt ist.«
»Wie lange war er eigentlich dort, einen Monat?«
Klein nickte.
»Er ist wegen seiner Doktorarbeit hingefahren? Nur für einen Monat?«
Klein erklärte kurz die Sache mit dem Sonderstipendium vom Yivo Institute for Jewish Research, ein Forschungsstipendium, das Tirosch für Ido beschafft hatte. »Die erste Woche hat er in Bibliotheken verbracht und sich mit Fachleuten für Minderheiten in der Sowjetunion getroffen, die meisten natürlich Juden. Er hat sich auch mit Dissidenten getroffen. Mir erschien er sehr nervös und erregt.« Mit einem verzeihenden Lächeln fuhr Klein fort: »Wie wir alle eben sind, wenn wir neue Quellen auf unserem Forschungsgebiet entdecken.« Er schüttelte den Kopf. »Und in der letzten Woche seines Aufenthalts ist Ido in den Süden gefahren, nach North Carolina, um sich dort mit einem Rechtsanwalt zu treffen, der sich mit Dissidenten und politisch Verfolgten in der UdSSR beschäftigt hat. Dieser Rechtsanwalt besitzt sehr viel Material über Leute, für die sich Ido interessierte, vor allem über Ferber, ich weiß nicht, ob Sie Ferbers Gedichte kennen.«
Michael machte ein unergründbares Gesicht.
»Anatoli Ferber war Scha'uls Entdeckung. Er hat auch andere Dichter entdeckt, viele, hier im Land, aber er liebte es besonders, unbekannte ausländische Dichter zu entdekken, und übersetzte ihre Lyrik aus dem Deutschen oder dem Tschechischen, wie er es im Fall von Hrabal getan hat.« Klein warf Michael einen hastigen Blick zu, als er diesen schwierigen Namen aussprach.
Michael schüttelte den Kopf.
»Aber Anatoli Ferber war seine große Entdeckung«, sagte Klein und beugte sich vor. »Ich persönlich bin davon überzeugt – und ich war es von Anfang an –, daß dies ein Teil des Mythos' war, den Scha'ul um sich errichtet hat. Meiner Meinung nach sind die Gedichte Ferbers nicht aufrichtig ... es fehlt ihnen die Originalität, die Scha'ul ihnen zugeschrieben hat. Um die Wahrheit zu sagen, es sind ziemlich durchschnittliche Gedichte, und falls sie eine Bedeutung haben, dann nur aus dem historischen Kontext heraus. Doch das konnte man unmöglich zu Scha'ul sagen, ohne sich der Gefahr eines stundenlangen Vortrags über die Geschichte der hebräischen Sprache auszusetzen.«
Kleins Lippen verzogen sich zu einer Art Lächeln, und dann, als erinnere er sich an die Vorfälle der letzten Tage, wurde er wieder ernst. Er setzte sich aufrecht hin. »Schon am Telefon hatte ihm jener Rechtsanwalt gesagt, daß in Ferbers Haus jetzt jemand lebe, der Ferber gekannt habe und der mit ihm im Gefängnis gewesen sei. Derjenige wisse sogar, wie die Gedichte entstanden und wie sie versteckt worden seien. Das war eine große Neuigkeit, denn Tirosch hatte erzählt, er habe die Gedichte in Wien gefunden, eine ganz einmalige Geschichte, und daß keiner der Menschen, mit denen Ferber eingesperrt war, Hebräisch sprechen konnte. Kurz gesagt, Ido war sehr aufgeregt, und ich sehe ihn noch vor mir mit seinen funkelnden Augen.« Arie Klein seufzte und griff wieder nach seiner Kaffeetasse.
»Wie war er auf diesen Rechtsanwalt gestoßen?«
»Zufällig, durch eine Bibliothekarin im ›Jewish Theological Seminary‹, dort war er in der ersten Woche fast dauernd gewesen. Ich erinnere mich nicht an Einzelheiten, aber Ido sagte ihm am Telefon, er sei ein Doktorand aus Jerusalem, und der Rechtsanwalt lud ihn ein.«
Klein zog die Augenbrauen hoch und schaute auf das große Foto, das an der Wand zwischen zwei Bücherschränken hing, das Foto eines Mannes mit einem breiten Gesicht und einer Glatze. Er trug einen Anzug. Das Bild kam Michael bekannt vor, doch er erinnerte sich nicht, woher er es kannte.
»Ido fuhr nach Washington und rief mich von dort einmal an, dann fuhr er weiter nach North Carolina, in eine Universitätsstadt namens Chapel Hill. Waren Sie schon mal in den Vereinigten Staaten?«
Michael
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