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Ochajon 02 - Am Anfang war das Wort

Ochajon 02 - Am Anfang war das Wort

Titel: Ochajon 02 - Am Anfang war das Wort Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Batya Gur
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war ein beherrschter Mensch, neben ihm fühlte ich mich manchmal irgendwie laut, er hatte etwas Gezügeltes und Bedächtiges. Und plötzlich saß er in einem dunklen Zimmer. Als ich das Licht anmachte und fragte, warum er im Dunkeln sitze, sagte er entschuldigend, es sei ihm nicht aufgefallen.
    Sein Gesicht sah gequält aus. Ich setzte mich ihm gegenüber und fragte mehrmals, was denn passiert sei. Plötzlich sagte er: ›Arie, wie lange kennst du Tirosch schon?‹ Und ich antwortete, was Sie schon wissen, daß wir gleich alt waren, daß wir uns im ersten Jahr, nachdem er eingewandert war, in Jerusalem getroffen hatten und seither eine enge Beziehung hatten. Aber Ido hörte mir gar nicht richtig zu. Er fragte, ob ich Tirosch wirklich kenne, wobei er das Wort ›wirklich‹ betonte. Ich versuchte, ironisch zu antworten, aber er weigerte sich, darauf einzugehen, er wurde zornig. Er hatte plötzlich etwas Erschreckendes an sich, einen Ernst wie Hermann Hesse in seinen Romanen.
    Ich erkundigte mich nach seinen Erlebnissen in Washington, nach seinem Treffen mit dem Rechtsanwalt und dem Mann, der mit Ferber eingesperrt gewesen war, aber er beantwortete meine Fragen nur sehr kurz, was wirklich ungewöhnlich für ihn war. ›In Ordnung, in Ordnung‹, sagte er einige Male, und kehrte dann zu der Frage zurück, ob ich Tirosch wirklich kenne. Wieder versuchte ich zu fragen, ob man einen Menschen tatsächlich ›wirklich‹ kennen könne, aber er ging nicht darauf ein und blieb hartnäckig bei seiner Frage. Schließlich sagte ich – und das meine ich wirklich –, daß ich glaubte, ihn so gut zu kennen, wie ein Mann wie ich einen Mann wie ihn kennen kann, daß er für mich das glänzende Beispiel eines Nihilisten sei, während ich mein Leben lang versucht habe, das Gegenteil dessen zu sein. Das ist auch einer der Gründe, weshalb ich mich mit der Lyrik des Mittelalters beschäftige.«
    Wieder warf Klein einen Blick auf das Foto des Mannes mit dem Anzug, dann bemerkte er Michaels fragenden Gesichtsausdruck und sagte: »Sherman. Das ist ein Foto von Professor Sherman. Haben Sie ihn gekannt?«
    Michael bewegte den Kopf, eine unklare Bewegung, und Klein fuhr fort, als habe er nicht aufgehört zu sprechen: »Ich habe mich – obwohl ich auch sehr belesen bin in der modernen Lyrik – für die Lyrik des Mittelalters wegen ihrer Eindeutigkeit entschieden, wegen der Tatsache, daß man sich nicht mit der Frage beschäftigt: Was will uns der Dichter sagen? Klassizismus in seiner reinen Form ist es, was mich anspricht. Ich konnte das Gerede der Studenten über moderne Lyrik nicht ertragen, diese unaufhörlichen Diskussionen, diese schreckliche Unwissenheit. Wie oft im Leben trifft man schließlich einen Studenten wie Ido? Jedenfalls, ich habe an diesem Abend zu Ido aus tiefstem Herzen gesprochen, denn ich hatte das Gefühl, er sei in Not. Ich sagte viel über den Unterschied zwischen uns, mir und Tirosch, doch am Schluß versicherte ich ihm, ich kenne Scha'ul wirklich sehr gut, seine Schwächen und seine Stärken. Er schaute mich mit einer ungeheuren Bitterkeit an und sagte: ›Ich kann dir sagen, daß du ihn überhaupt nicht kennst, es kommt dir nur so vor.‹ -Ich konnte ihm nicht widersprechen, vor allem, weil mir schlecht war vor Hunger. Und als ich feststellte, daß er nicht die Absicht hatte, essen zu gehen, schlug ich vor, wir sollten in der Küche weiterdiskutieren. Dort, während ich den Salat machte, stand er hinter mir und fragte, ob ich glaube, daß Tiroschs Lyrik gut sei. Ich erinnere mich, daß ich ihn einen Moment angeschaut habe – ich glaubte, er sei verrückt geworden –, bevor ich sagte, Tiroschs Lyrik sei die Rechtfertigung seiner Existenz, sie ermögliche es ihm, so einsam zu leben, wie er es tue, und daß ich seine Lyrik, wie Ido genau wisse, für ganz groß halte. Er brach in Gelächter aus, ganz und gar untypisch für ihn, Ido hat selten gelacht, und das war ein anderes Lachen, es hatte etwas Dämonisches, und wieder fragte ich: ›Was ist passiert?‹, und er sagte: ›Nicht wichtig.‹ Ich erinnere mich genau an die Worte und an den Ton, in dem sie gesprochen wurden, weil das eine typische Antwort Scha'uls war, auch in seinem Tonfall, und wieder fragte ich, wie dieses Treffen gewesen sei. ›Ich erzähle es dir ein andermal, antwortete er, ›nicht jetzt.‹
    Und dann sagte er, er wolle versuchen, früher zurückzufliegen. Mit großer Mühe und ohne Erfolg versuchte ich, ihn dazu zu bringen, daß er etwas aß.

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