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Ochajon 02 - Am Anfang war das Wort

Ochajon 02 - Am Anfang war das Wort

Titel: Ochajon 02 - Am Anfang war das Wort Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Batya Gur
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auf die kleine verschlossene Kommode neben dem Bett. Michael setzte sich auf die Bettkante und strich mit der Hand über den chinesischen Morgenrock aus Seide, der auf dem Kopfkissen lag.
    »Gibt es einen Schlüssel?« fragte er und streifte die Asche seiner Zigarette in dem kleinen Aschenbecher ab, der auf der Kommode stand, leer und sauber.
    »Vielleicht gibt es einen, aber ich habe ihn nicht gefunden. Und im Arbeitszimmer waren seine Bankauszüge das Allerpersönlichste, was wir gefunden haben. Ich kann dir jetzt schon sagen, daß es ihm gar nicht schlecht ging. Er hat da und dort Geld angelegt, er hat Tantiemen von seinen Büchern bekommen, Wiedergutmachungszahlungen aus Deutschland, ein bißchen was geerbt, und er war außerordentlich genau in diesen Sachen, für alles gibt es eine Mappe. Keine Ahnung, ob seine Geldangelegenheiten ganz sauber sind, jedenfalls habe ich keine Abschrift von einem Testament oder so gefunden.«
    »Mach schon auf«, sagte Michael müde. »Schade um die Zeit. Eli, ruf du inzwischen in der Zentrale an und erkundige dich, ob sie etwas aus Eilat gehört haben. Vielleicht ist der Bericht des Pathologen über Duda'i schon da. Viel- . leicht. Sag ihnen auch, sie sollen sich mit Abu-Kabir in Verbindung setzen und mit dem Institut für Meeresmedizin in Haifa, dorthin haben sie Duda'is Taucherausrüstung geschickt.«
    »Wo ist das Telefon?« fragte Bachar Scha'ul von der Spurensicherung, der gerade ins Zimmer trat, und Scha'ul führte ihn in die Küche, wo ein Telefon an der Wand hing.
    Mit einem kleinen Schraubenzieher, den er aus der Tasche zog, öffnete Balilati die Kommode neben Tiroschs Bett, zog drei tiefe Schubladen heraus und stellte sie vor dem Bett auf den Boden. Michael streckte sich und verkündete: »Ich brauche Kaffee, ich sterbe.«
    Balilati ignorierte diese Ankündigung, breitete den Seidenmorgenrock über dem Bett aus – Michael sah den grünen Drachen, der auf den Rücken gemalt war – und schüttete den Inhalt einer Schublade darauf. Michael streckte die Hand nach dem Aschenbecher aus. Plötzlich gab es einen Knall, und die Flasche Riesling, die auf der Kommode gestanden hatte, zerbrach. Im Zimmer breitete sich der säuerliche Geruch von Wein aus.
    Balilati betrachtete die Scherben und sagte: »Gut, daß wir schon die Fingerabdrücke genommen haben, auch von den Gläsern, von allem haben wir Fingerabdrücke genommen.« Erst da bemerkte Michael die Spuren von Puder.
    Balilati ging aus dem Zimmer. »Ich hole einen Lappen, um das Zeug aufzuwischen, damit es nicht so stinkt.« Wieder versuchte Michael, den süßlich-fauligen Geruch zu ignorieren, den er immer noch in der Nase hatte, und atmete tief den Rauch der Nelson ein, deren Duft sogar stärker war als der Weingeruch.
    In der Schublade waren Fotoalben, von der altmodischen Art, mit einer Schnur zusammengebunden, und in ihnen befanden sich vergilbte Familienfotos, mit fremden europäischen Landschaften als Hintergrund. Auf der ersten Seite eines Albums stand mit verschnörkelter Schrift ein Wort: »Czaski«. Michael betrachtete das Foto einer Frau, die einen Jungen im Matrosenanzug an der Hand hielt, einen Jungen mit ernsten Augen, die in die Kamera schauten. Unter dem Bild stand mit blauer Tinte »Prag 1935«, in einer männlichen Schrift.
    Er blätterte das Album durch, der Junge wurde Seite für Seite größer. Im zweiten Album war er bereits ein Jüngling, der keinen Matrosenanzug mehr trug, sondern Herrenanzüge und Krawatten. Der junge Mann auf dem vergilbten Schnappschuß hatte eine gelassene Haltung, die Hände hingen locker an beiden Seiten des Körpers, und seine Augen blickten ernst, ohne das Blitzen, an das sich Michael von den Vorlesungen über die Lyrik von der Aufklärung bis heute erinnerte. Unter einem anderen Foto, auf dem der junge Tirosch hinter derselben, inzwischen gealterten Frau zu sehen war – sie saß in einem schweren Sessel und hatte die Haare zu einem Knoten gebunden, er schaute direkt in die Kamera –, stand »Wien 1957«. Auch das war mit Tinte geschrieben, doch nun war die Schrift – lateinische Buchstaben – runder, weiblicher.
    Hier hat man die Geschichte eines ganzen Lebens, dachte Michael, und sogar Stoff für die Erforschung des europäischen Judentums und seiner schicksalhaften Ortswechsel.
    Balilati kam zurück, einen Lappen in der Hand. Er kniete sich auf den Boden und wischte den Wein und die Scherben auf. Michael legte die Alben vorsichtig in die Schublade zurück und leerte den

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