Ochajon 02 - Am Anfang war das Wort
Inhalt der zweiten auf den seidenen Morgenrock. Drei schwarze, ledergebundene Notizbücher verdeckten die roten Flammen, die aus dem Maul des Drachen kamen.
Jetzt sind sie historisch wertvoll, dachte Michael und erinnerte sich an die Reiseschreibmaschine, die im Arbeitszimmer auf dem Schreibtisch stand. Alle Gedichte Tiroschs standen in den Notizbüchern, mit Tinte geschrieben, mit langgezogenen, vokalisierten Buchstaben. Michael blätterte eine Seite nach der anderen um und fand Gedichte, die er kannte, Zeilen, die er auswendig wußte, Formulierungen, die ihn verblüfft hatten, als er sie zum ersten Mal las. »Was werden sie sich hier draufstürzen, die Literaturforscher, wenn das alles vorbei ist«, sagte er laut. »Hier gibt es verschiedene Fassungen ein und desselben Gedichts. Stoff genug für viele Aufsätze.«
»Was ist das?« fragte Balilati ungeduldig.
»Gedichte«, sagte Michael und deklamierte laut: »Zu welch schnöden Bestimmungen wir kommen, Horatio! Warum sollte die Einbildungskraft nicht den edlen Staub Alexanders verfolgen können, bis sie ihn findet, wo er ein Spundloch verstopft?«
Dani Balilati schaute ihn einen Moment erstaunt an, dann lachte er und schlug sich auf die Schenkel. »Ochajon«, rief er, »bei uns, bei der Polizei, sind wir nicht scharf auf Hamlet, weißt du, wir mögen aktive Leute, keine Zauderer.«
»Du kennst diese Sätze?« fragte Michael und kam sich dumm vor, als Balilati mit einem gutmütigen Lächeln antwortete: »Sei nicht so ein Snob, wirklich. Auch ich hab' Hamlet im Gymnasium auswendig gelernt, noch dazu auf englisch, stundenlang, es hat nur einen Moment gedauert, bis ich kapiert hab', wovon du redest. Ich brauche nur ›Horatio‹ zu hören, und schon weiß ich, daß es aus Hamlet ist. Mein Bruder hat Julius Cäsar auswendig gelernt und meine Schwester Macbeth. Damals war ich fit, wenn's um Shakespeare ging. Aber trotzdem renne ich nicht bei der Arbeit herum und denke an Hamlet. Außerdem ist er ein negativer Typ, ganz ungesund. Könnten wir uns jetzt vielleicht wieder an die Arbeit machen? Sind diese Gedichte für unseren Fall wichtig?«
»Alles ist wichtig für unseren Fall«, sagte Michael.
Balilati schüttete den Inhalt der letzten Schublade auf das Bett.
Zettel, einzelne gereimte Zeilen, Fotos von Tirosch selbst, Tirosch in Begleitung von Frauen, Tirosch in einer großen Gruppe, sorgfältig aus Zeitungen geschnittene Rezensionen über seine Gedichte, die Fotokopie eines großen Artikels über eine Preisverleihung, alte Speisekarten von Restaurants in Paris und Italien, alte Programme, persönliche Einladungen, Briefe und Tagebücher.
»Darauf habe ich gewartet«, sagte Balilati, und beide begannen sie, schweigend in den Tagebüchern zu blättern. »Ich kann es kaum glauben«, sagte Balilati. »Schau nur, wie viele Frauen! Und alle mit Namen und Adresse. He, warum wirst du denn so rot?« Michael reichte ihm das erste Blatt des Briefes, den er gerade las.
Balilati warf einen Blick darauf, dann begann er langsam und konzentriert zu lesen. Wortlos streckte er die Hand nach der Fortsetzung des Briefes aus, der aus einer detaillierten Auflistung der Gründe bestand, warum diese Frau, die den Brief mit ihren Anfangsbuchstaben unterzeichnet hatte, Tirosch wiedersehen wollte.
Als er fertig war, stieß Balilati einen Pfiff aus und sagte: »Gut, das müssen wir mitnehmen. Nach diesem Brief hatte er ja ganz gute Techniken, unser Dichter, nicht wahr?« Und wieder sah Michael die Leiche mit dem konturlosen Gesicht vor sich. Ohne etwas zu sagen, blätterte er weiter in den Briefen. Er war peinlich berührt und neugierig, sogar aufgeregt, wie immer, wenn er in die Intimsphäre von Opfern eindringen mußte.
»Scha'ul, Zwika!« rief Balilati an der Tür. »Kommt, einpacken.«
»Wir haben schon einige Säcke voll draußen hingestellt, und jetzt kommt noch einer«, sagte Scha'ul in einem mürrischen Ton, der gar nicht zu ihm paßte. »Wir werden eine ganze Mannschaft brauchen, um das Zeug auszuwerten.«
»Was ist los, Scha'ul?« fragte Michael. »Stimmt was nicht?«
»Nichts von Belang, außer daß meine Frau mich umbringen wird. Heute ist unser Hochzeitstag, und ich habe ihr versprochen, daß ich um sechs zu Hause bin. Wir wollten essen gehen. Ich hab' mich noch nicht mal getraut, sie anzurufen. Weißt du, wie oft wir es uns im Jahr leisten können, in ein richtiges Restaurant gehen zu können, bei meinem Gehalt?«
Sie gingen in die Küche. »Gut«, sagte Michael,
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