Ochajon 02 - Am Anfang war das Wort
machte die Zigarette im Spülbecken aus und warf den feuchten Stummel in den Abfalleimer unter der Spüle, dessen Inhalt bereits in einem der Säcke verschwunden war.
»Was soll das heißen, gut?« fragte Scha'ul mit rotem Gesicht. »Schau dich doch um, wieviel Material es noch gibt.«
»Es kann bis zum Morgen warten. Wieviel Jahre seid ihr verheiratet?«
»Zehn«, antwortete Scha'ul und sah ein wenig besänftigt aus.
»Zehn?« sagte Balilati. »Dann habt ihr euch eigentlich ein Wochenende in Eilat verdient. Was Richtiges, nicht nur mal ins Restaurant.«
»Meinst du?« antwortete Scha'ul wütend. »Und wer bezahlt es mir, wenn ich mein Konto überziehe? Du etwa? Wer paßt auf die Kinder auf?«
Balilati seufzte und nickte. »Na ja. Uns geht's doch allen so, oder? Glaubst du etwa, wir fahren jedes Wochenende nach Eilat? Haben wir vielleicht alle einen Freund, der einen Tauchclub leitet?« Mit seiner verschwitzten Hand schlug er Michael auf die Schulter.
»Wo ist Eli?« fragte Michael.
»Zurück ins Büro. Die Zentrale hat ihm mitgeteilt, daß die in Eilat das Ergebnis der pathologischen Untersuchung bekommen haben. Deshalb versucht er die ganze Zeit, dort anzurufen«, sagte Zwika. Plötzlich ging die Tür des kleinen Kühlschranks, an dem er lehnte, auf, und Scha'ul, der ihm gegenüber stand, schaute hinein. »Sag mal, hast du schon mal so etwas gesehen?« fragte er und zog eine kleine Glasvase mit roten, unter dem Blütenkelch abgeschnittenen Nelken heraus.
Balilati brach in Gelächter aus. »Dieser Typ war aber echt durchgestylt, was? Ochajon, los, zitier doch ein bißchen Hamlet, jetzt paßt es besser.«
»Und dabei sag' ich gar nichts über die französischen Käsesorten hier und die Würste und den Wein«, sagte Scha'ul. »Alles ausländische Sachen.«
»Scha'ul«, sagte Michael müde. »Ruf daheim an, bevor du gehst. Es lohnt sich nicht, daß du dir diesen Abend ganz und gar verdirbst. Los, geh schon. Du wolltest doch gehen, oder?«
Das waren die Momente, die Michael am meisten verabscheute. Auch ihn brachten die Zeichen des gepflegten Wohlstands auf, die überall zu erkennen waren, angefangen bei den grauen Anzügen bis zu den Flaschen mit Parfüm und Rasierwasser, die er, auf dem Weg in die Küche, im Badezimmerschrank entdeckt hatte. Aber dieser offene Neid Balilatis, der sich in bissigen Bemerkungen äußerte, regte ihn ebenfalls auf. Begriffe wie »Ehrung der Toten« und »Wahrung der Privatsphäre« schossen ihm durch den Kopf und wurden, wegen der Aggressivität und der Verachtung in Balilatis Worten, lebendig. Michael sehnte sich plötzlich nach einer einfachen, sättigenden Mahlzeit, nach schwarzem, dampfendem Kaffee, nach etwas, das die ganze Dekadenz um ihn herum auslöschen würde.
»Kultiviertheit ist eine andere Seite des Negativen.« Plötzlich fiel ihm dieser Satz aus einem Gedicht Natan Sachs ein, und er hatte irgendwie das Gefühl, ihn besser als je zuvor zu verstehen, als sei er in den »Geist der Dinge« eingedrungen, auch wenn noch ein weiter Weg vor ihm lag. Das dachte er, während Scha'ul am Telefon versuchte, seine Frau zu beruhigen.
Die Formulierung »Der Geist der Dinge«, die von allen, die mit ihm zusammenarbeiteten, oft und mit einem Lächeln zitiert wurde, war sein persönlicher Beitrag zu einem ungewöhnlichen Untersuchungsstil. Er mußte, seinem Gefühl nach, immer ein Teil der Welt des Opfers werden, er mußte die Nuancen in der Welt des Ermordeten erfühlen.
Die literarischen Assoziationen, die ihm durch den Kopf gingen, seit er die Leiche gesehen hatte, waren Teil eines nicht von seinem Willen gesteuerten Prozesses, sie waren ein Versuch, in die Welt der literarischen Fakultät einzusteigen. Er drang, das fühlte er, in die Tiefe von Tiroschs Seele ein und spürte ganz deutlich die Einsamkeit, die Leere, das irgendwie Unechte und Verlorene an dessen Existenz, und er wußte, daß er nicht der einzige war, der das spürte, nur daß Balilati und Eli Bachar diese Erkenntnis abwehrten und eine offene Abneigung gegen die Welt Tiroschs empfanden, während er seinem Gefühl folgte und wünschte, daß die Ströme des Unterbewußten aus Tiroschs Leben Macht über ihn gewannen.
Balilati riß ihn aus seinen Gedanken. »Gehen wir?«
»Noch nicht«, antwortete Michael. »Gibt es hier einen Schuppen?«
»Hinter dem Haus, aber da war nichts Ungewöhnliches drin: ein paar Arbeitsgeräte, Kartons, alte Zeitungen, ein paar Flaschen Wein und ein paar Möbel«, sagte Zwika. »Ich
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