Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Ochajon 02 - Am Anfang war das Wort

Ochajon 02 - Am Anfang war das Wort

Titel: Ochajon 02 - Am Anfang war das Wort Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Batya Gur
Vom Netzwerk:
Simson kennzeichnete, durch eine ganz reale Angst vor Frauen ersetzt, eine Angst, die im Kontrast zu der Gefährdung steht, der der biblische Simson ausgesetzt ist. Das Gedicht erklärt die Schwäche Simsons in seinem Verhältnis zu Frauen nicht als Unfähigkeit, ihrer Verführung zu widerstehen, sondern als Kastrationsangst. Simson wird als einer dargestellt, der um seine Männlichkeit fürchtet!«
    Wieder strahlten Tuwja Schajs Augen sieghaft. Sein Blick glich sehr dem Blick Balilatis, wenn er irgendein Detail herausgefunden hatte und vor Freude über seine Findigkeit strahlte. Michael wäre vorher nie darauf gekommen, daß auch Tuwja Schaj ein solches Gefühl empfinden könnte.
    »Das Thema der Kastration«, fuhr Schaj fort, »zeigt sich beim zweiten Lesen ganz deutlich. Warum ist es verboten, über die Haare zu sprechen? Vielleicht, weil es eigentlich um das männliche Glied geht? Seine ständige Angst, wenn Delila seine Haare streichelnd berührt, charakterisiert Simson als jemanden, der die ganze Zeit damit beschäftigt ist, seine Haare zu bewachen. Das heißt, der Dichter begreift Simons Kraft als primitive, kindliche Kraft, trotz des mystischen Elements, das in ihr verborgen ist.« Sogar die junge Frau mit den Sommersprossen schaute Tuwja Schaj konzentriert an, bemüht zu verstehen.
    »Entschuldigung«, sagte die Frau mit dem Haarnetz, »können Sie bitte den letzten Satz wiederholen?«
    Tuwja Schaj sah aus, als würde er aus einem hypnotischen Schlaf geweckt. »Was war der letzte Satz?« fragte er verwirrt.
    »Ich habe ihn nicht ganz verstanden«, beharrte die Frau mit den Sommersprossen.
    Tuwja Schaj wiederholte mehrmals die Worte »Kastrationsangst«, »Metonymie« und den Satz, den er davor gesagt hatte. Sie nickte, schrieb eifrig und sagte: »Ich habe verstanden«, auf eine Art, die Michael deutlich erkennen ließ, daß sie nichts verstanden hatte, sondern nur aufgab.
    Eine der Frauen mit den Kopftüchern flüsterte ihrer Nachbarin etwas zu, diese lächelte und gab eine Antwort, die die andere Frau errötend schweigen ließ. Tuwja Schaj nahm seinen Vortrag wieder auf.
    Michael folgte seinen Ausführungen mit großer Konzentration, als er »die veränderte Version von Absaloms Geschichte in dem Gedicht« beschrieb. Er betonte, daß Absaloms Haare als rot charakterisiert werden, was die Assoziation mit David aufkommen ließ, der laut Bibel »rothaarig und mit schönen Augen«* {} war, und am Schluß sagte er: »Alle Gefühle und Eigenschaften, die sich in dem Gedicht auf die Haare beziehen, sind Hinzufügungen, wir haben sie im Urtext nicht gefunden.« Dann sagte er noch: »Aufgrund der Verbindung zwischen den Assoziationen der Allusion und der Verbindung von Ahithophel mit Absalom, eine Verbindung, die durch das Abwenden der Augen beschrieben ist, schafft das Gedicht eine ausdrückliche Erotik zwischen Absalom und Ahithophel.«
    »Schon wieder Erotik«, protestierte die Frau mit dem Kopftuch.
    Schaj ignorierte ihren Einwurf und fuhr fort: »Ein anderes Element der syntaktischen Struktur ist die zusätzliche Bezeichnung, die Absalom bekommt – ›der Anlaß für Davids Liebe‹ –, sie ist der Grund dafür, daß Davids Liebe identisch wird mit den Haaren, das heißt mit Absaloms Schönheit.« Und dann: »Das ist die ›glänzende Rechtfertigung‹ für alles. Das Gleiten des Satzes von einer Verszeile zur nächsten verwandelt den Aufstand in ›alles‹, sowohl den Aufstand selbst als auch später den Tod.«
    Tuwja Schaj verschränkte die Arme hinter dem Rücken und drehte sich zum Fenster. Seine Worte gruben sich in Michaels Bewußtsein, und ihr Echo sollte ihn den ganzen Tag nicht mehr loslassen.
    Was hast du heute gelernt, fragte er sich später, nachdem er sich das Band wieder und wieder angehört hatte, besonders die letzten Sätze: »Das Gedicht bringt eine verborgene Schicht an die Oberfläche, die sich mit dem ungeheuren Einfluß der Schönheit auf den Menschen beschäftigt. Die Betonung, sowohl im Urtext als auch im Gedicht, liegt auf der Schönheit Absaloms, sozusagen als Erklärung für schreckliche Verbrechen – die Drohung des Vatermordes, die Blutschande –, als rechtfertige sie das unverständliche Verhalten Davids. Die Erklärung steckt in der besonderen Macht der Schönheit, die aus sich selbst beeindruckt, ohne Konflikt, ohne Zögern, ohne Fragen. Der gewöhnliche Mensch ist begrenzt in seiner Fähigkeit, sich der konkreten Schönheit gegenüber zu verhalten, ihrer Physis gegenüber.

Weitere Kostenlose Bücher