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Ochajon 02 - Am Anfang war das Wort

Ochajon 02 - Am Anfang war das Wort

Titel: Ochajon 02 - Am Anfang war das Wort Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Batya Gur
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Doch zugleich hat er eine Sehnsucht nach der abstrakten Schönheit, ein Verlangen nach ihr. Dieses Verlangen führt auch zum Hingezogensein zu den Phänomenen dieser Schönheit und zu übertriebener Ehrfurcht vor ihnen. Der Mensch sehnt sich nach einer Identifikation mit der Schönheit, auch weil diese Identifikation die Illusion schafft, daß die Schönheit eines Objekts auch jenen adelt, der sich mit ihm identifiziert. Der Mensch, der bei einer solchen Schönheit Schutz findet und sich mit ihr identifiziert, fühlt, daß etwas von ihr auf ihn abfärbt.«
    Tuwja Schaj setzte sich, senkte den Kopf und sprach mit monotoner Stimme weiter: »Mit anderen Worten: Der Sprecher betrachtet Absaloms Schönheit als schreckliche Kraft, stärker als alles – als die Bösen und die Kalten, wie Ahithophel, stärker als der Vater, der König –, die alles andere nach sich zieht. Das ist eine übermenschliche Schönheit«, sagte er verzweifelt zu den gesenkten Köpfen der eifrig schreibenden Studenten, dann ließ er den Kopf sinken, »und deshalb ist es unmöglich, ihr standzuhalten. Es ist eine Schönheit, über die moralische Werte keine Macht mehr haben. Sie führt zum Ausbruch archaischer Kräfte. Der Aufstand gegen den König-Vater wird im Gedicht als unvermeidliches Ergebnis der Tatsache dargestellt, daß Absalom der Schönste von allen war. Die Sublimierung der Tatsache, daß er der Schönste von allen war, bestand darin, daß er sich außerhalb menschlicher Werte stellte. Vollkommenheit ist unmenschlich. ›Und dann für den Tod‹ – der Sieg der Schönheit und der Jugend endet im Galopp zum Untergang.«
    Er hob den Kopf und schaute die Studenten an, die aufgehört hatten zu schreiben, dann betrachtete er mit besonderem Mitleid die junge Frau mit den Sommersprossen, die ihn voll Eifer ansah. Michael fragte sich, ob sie, in ihrem Alter, überhaupt hatte verstehen können, was Tuwja Schaj gesagt hatte. Er selbst empfand immer größere Achtung vor Tuwja Schaj. Etwas in ihm hatte sich beim Anhören dieser Interpretation verwandelt. Ihm war bewußt, daß Schaj etwas Grundsätzliches vor ihm aufgedeckt hatte, etwas, was ihn auch persönlich betraf, doch er fühlte, daß er die Fäden noch nicht zusammenbrachte.
    »Der Sprecher entblößt sich selbst durch Verständnis und Unverständnis. Er regt sich nicht auf über die Diskrepanz zwischen der wunderbaren Kraft Simsons und seiner Schwäche. Die Überlegenheit der göttlichen Kraft gegenüber der menschlichen erregt ihn nicht. Er ist betroffen von der triebhaften, vergänglichen Schönheit, er ist nicht betroffen von der auf den Menschen ausstrahlenden göttlichen Kraft. Die Kraft Simsons besitzt nicht den Trieb zur Zerstörung, deshalb wird er, der Sprecher, nicht davon beeindruckt, sie ist in seinen Augen bedeutungslos. Simsons Kraft erschüttert keine grundsätzlichen Bindungen wie Vater-Sohn, Untertan-König und ähnliche. Die Kraft, die das Herz des Sprechers berührt, ist die Kraft zum Zerstören, ohne Hemmungen, die Kraft, die sich an archaische Schichten in den Herzen der Menschen richtet, Schichten, die normalerweise vom moralischen Kodex beherrscht werden, diesmal aber der Kraft nicht standhalten und ihn in den Untergang reißen.«
    Tuwja Schaj blickte Michael direkt an, als er weitersprach. »Dieser Untergang ist nicht nur Absaloms Untergang, wir erinnern uns, daß sich zwanzigtausend Mann zum Krieg im Walde Ephraim versammelt hatten, wir erinnern uns an Ahithophel, der sich das Leben genommen hat, und an Davids schreckliche Trauer, der schrecklichsten Trauer, von der die Bibel berichtet, über seinen geliebten Sohn. Um diese Trauer zu beenden, war Joab gezwungen, David zu beschuldigen, es wäre ihm lieber, alle seine Untertanen wären tot, wenn nur Absalom lebte.«
    Die Stille hielt an, bis Tuwja Schaj weitersprach: »Verstehen Sie, meine Herrschaften, dies ist der dritte Text. Ich danke Ihnen.« Mit diesen Worten setzte er sich auf seinen Stuhl.
    »Aber von wem ist das Gedicht?« fragte die Frau mit der Kappe.
    »Von Sach«, sagte der junge Student mit den hellen Augen und betrachtete liebevoll das Buch in seiner Hand.
    Die Frau schrieb etwas auf. »Nathan Sach?« erkundigte sie sich. Der junge Mann gab ihr keine Antwort.
    Michael blieb auf seinem Platz sitzen. Er sah, wie sich die hübsche Sommersprossige zu Tuwja Schaj beugte, und hörte die Worte: »Seminararbeit über die Allusion«, er hörte, wie der ältere Mann zu Schaj sagte: »Bestätigung der

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