Ochajon 02 - Am Anfang war das Wort
haben.* {} Nur die Phrase ›verstand ich noch nie‹, der alles andere untergeordnet ist, nur diese Phrase erlaubt dem Satz nicht, die Ausschöpfung seiner ganzen Energie zu erreichen. Auch im zweiten Vers ist das so: Das Objekt – die Haare Absaloms – und alles, was damit verbunden ist, scheint sich zum Subjekt zu verwandeln.« Er wandte sich an die Studentin und forderte sie mit einer Handbewegung zum Sprechen auf.
Sie saß Michael gegenüber, auf der anderen Seite des Raumes, und hatte das anziehende Gesicht einer jungen Frau von Anfang Zwanzig, mit einer Nase voller Sommersprossen, und ihre dunklen, funkelnden Augen wurden sichtbar, als sie ihren Pony zurückstrich. Heftig sagte sie: »Ich weiß nicht, wie es den anderen geht, aber mir macht das hier einfach das Gedicht kaputt, dieses ganze Gerede über die Syntax.«
Tuwja Schaj lächelte nicht. Mit todernstem Gesicht sagte er: »Erstens sind wir noch nicht fertig, zweitens, Tamar« – es war das erste Mal, das er jemanden mit Namen ansprach –, »haben wir das ganze Jahr darüber gesprochen, und drittens kann ich Ihnen versprechen, daß nichts Ihnen dieses Gedicht kaputtmachen kann, wenn es Qualität hat, auch keine grammatikalische Analyse. Aber vielleicht sagen Sie uns Ihre Meinung, wenn wir fertig sind?«
Jemand im Raum seufzte, ein anderer lächelte gutmütig. Die beiden Frauen mit den Kopftüchern schauten sich verständnisinnig an, dann musterten sie die junge Frau verächtlich. Diese wurde rot und sagte wütend und aggressiv: »Ich weiß nicht«, und griff wieder nach ihrem Stift.
»Es geht um den Sprecher, Tamar, wir sind dabei, ihm näherzukommen«, sagte Schaj, als verrate er ein großes Geheimnis. Michael schaute ihn an, allmählich begann er zu begreifen. »Der Sprecher in dem Gedicht steht den biblischen Geschichten gegenüber und verhärtet sich gegen sie. Letztlich ist vom Ich des Sprechers die Rede, er tritt in Erscheinung durch die Wahl der biblischen Details und deren Stellung zu der Aufteilung ›verstehen – nicht verstehen. Durch die Veränderung der Allusion – ob der Sprecher sie versteht oder nicht – erfahren wir etwas über ihn, über seinen Charakter. Erinnern Sie sich an einen Ausspruch Kellers?« Der junge Mann mit den hellen Augen hob den Kopf, Tuwja Schaj schaute ihn an, während er fortfuhr: »Er hat gesagt: ›Wenn eine bestimmte Absicht im Auftrag des Sprechers erklärt wird, müssen wir bei der Interpretation einen schwierigen Punkt überwinden.‹ «
Im Zimmer herrschte konzentriertes Schweigen. Tuwja Schaj deutete auf den Gedichtband, atmete tief durch und sagte dann: »Das Gedicht stellt durch seine Auswahl eine Reihe von Einzelheiten dar, die sich offenbar – ich betonte: offenbar – zwangsläufig auseinander ergeben. Mit anderen Worten: Eine Prüfung der Veränderung der Allusion auf ihrem Weg von der Bibel in das Gedicht und ihre Position im architektonischen Aufbau von Verneinung und Bejahung ermöglicht es, zu verstehen, was der Sprecher über sich selbst sagt.«
Und was sagst du da über dich selbst? fragte sich Michael, und wieder traf sein Blick die Augen Tuwja Schajs, der ungerührt zu einem Vortrag ausholte, den man, das war klar zu erkennen, nicht unterbrechen konnte.
Ganz offensichtlich war die ganze Vorlesung auf diesen Vortrag ausgerichtet. »Erst jetzt, nach diesem ganzen langen Weg, nach der Prüfung jeder Allusion und ihrer möglichen Auslegungen, nachdem wir die Verwendung von Syntax und Aufbau in dem Gedicht und die Art, wie die Details aus den biblischen Geschichten ausgewählt wurden, analysiert haben – erst jetzt können wir die Veränderung in der Position der Allusion innerhalb des Gedichts entziffern. Das einzige Element, das von Simsons Geschichte in das Gedicht eingeführt wurde, sind die Worte ›die große Kraft, die in ihnen verborgen ist‹, gefolgt von ›das Geheimnis des Gottgeweihten‹ ...« Wieder erlahmte Michaels Aufmerksamkeit, er hörte Formulierungen wie »Signifikat« und »Signifikant« und fragte sich, worauf das alles hinauslaufen sollte.
»Diese ständige Angst vor dem Verlust der Haare«, sagte Tuwja Schaj, »diese Angst wird in der Bibel nicht verbalisiert, weder offen noch versteckt. Die Darstellung der Angst in dem Gedicht ist ein Ergebnis der Weltsicht des Sprechers, der glaubt, daß er, wenn seine gesamte Kraft in seinen Haaren konzentriert wäre, Angst hätte, sie zu verlieren. In dem Gedicht wird die Schwäche gegenüber weiblicher Verführung, die
Weitere Kostenlose Bücher