Ochajon 03 - Du sollst nicht begehren
von jahrelanger Arbeit krumm gewordenen Fingern. Sie schüttelte ihn mit aller Kraft und brüllte dabei unverständliche Wortfetzen.
Er konnte sie nicht zurückstoßen, er konnte sie nicht zum Schweigen bringen. Er brauchte seine ganze Kraft, um ihre Hände von seinem Kragen zu lösen. Das Geräusch zerreißenden Stoffs war zu hören. Michael sah die blau tätowierte Nummer auf ihrem Arm und sagte mit erstickter Stimme zu Mojsch, wobei er sich des falschen Tons in seinen beruhi gend gemeinten Worten schmerzhaft bewußt war: »Wo liegt das Problem? Fahren Sie mit ihr nach Aschkelon, zur Klinik. Dort ist er in der psychiatrischen Abteilung. Fahren Sie mit ihr hin, und bringen Sie sie zurück. Ich möchte dann noch mit ihr sprechen.«
Fanja beruhigte sich auf der Stelle. Ihr Körper entspannte sich, ihre Hände bebten. Sie setzte sich auf einen Stuhl und preßte die Lippen zusammen.
»Komm«, sagte Mojsch mit zittriger Stimme. »Ich bringe dich hin. Willst du, daß Guta mitkommt?«
Fanja antwortete nicht. Sie stand auf und ging zur Tür. Mojsch folgte ihr.
»Wer ist Guta?« fragte Michael.
»Guta ist ihre Schwester«, antwortete Jojo schnell.
»Stehen sich die beiden sehr nahe?«
»Sie sind nach dem Krieg zusammen hergekommen. Guta ist Fanjas ältere Schwester.«
»Ist sie auch so?« erkundigte sich Michael.
»Nein«, sagte Jojo. »Sie ist für den Kuhstall verantwortlich. Und wir haben einen Kuhstall, wie ihn in der ganzen Gegend kein anderer Kibbuz hat. Wir haben schon viele Preise bekommen. Es gibt über Guta Geschichten ... Man erzählt sich, daß ihre Tochter, als sie klein war, den ganzen Tag auf allen vieren herumkrabbelte und ›Muh‹ machte, um von ihrer Mutter die gleiche Aufmerksamkeit zu bekom men wie die Kühe. Guta arbeitet wie der Teufel.«
Michael dachte an das, was Aharon Meros erzählt hatte. »Ist sie kommunikativ?« fragte er, und Jojo, ohne nachzufragen, wie das gemeint war, antwortete: » Sie redet wie ein Mensch. Ein sehr gutes Hebräisch. Sie hat es noch in ihrer alten Heimat gelernt. Sie spricht akzentfrei.«
»Der Kuhstall und die Schneiderei«, überlegte Michael laut. »Zentrale Punkte. Aus der Schneiderei kommen die Gerüchte, nicht wahr?«
Jojo zuckte zusammen. »Nicht aus dieser Schneiderei. Beide schweigen wie ein Grab. Sie klatschen nie, über niemanden. Fanja redet überhaupt nicht. Guta meldet sich mal bei einer Sicha , einer Vollversammlung, zu Wort, aber auch nur selten. Und wenn sie dann mal was sagt, dann aber hoppla!«
»Das heißt«, sagte Michael langsam, »daß ihre Worte Gewicht haben.«
»Ja«, sagte Jojo. »Und was für ein Gewicht!«
»Ich möchte mit ihr sprechen«, sagte Michael nach kurzem Nachdenken.
»Jetzt gleich?« fragte Jojo erschrocken. »Warum?«
Michael gab ihm keine Antwort.
»Soll ich Sie zu ihr bringen?«
Michael nickte.
Jojo schaute auf seine Uhr, seufzte und sagte: »Na gut, einverstanden.«
Schweigend und mit schnellen Schritten gingen sie durch den Kibbuz. Wieder nahm Michael den Widerspruch zwischen dem Rhythmus seiner Bewegungen und der Ruhe der Umgebung wahr. Auf den Wegen fuhren Kinder auf ihren Fahrrädern, drei Kleinkinder, vielleicht ein Jahr alt, saßen in einem Leiterwagen, dessen Reifen quietschten. Der Wagen war breiter als der Weg, seine Räder rollten über das Gras. Der junge Mann, der den Wagen zog, und die drei Kinder, die darin saßen, waren braungebrannt. Eines von ihnen, ein Mädchen mit blonden Locken, starrte Michael und Jojo mit großen Augen an und steckte sich einen dicken kleinen Daumen in den Mund. Auf den Rasenflächen vor den offenen Türen saßen Eltern mit Kindern. Aus den Zimmern drang das Klappern von Geschirr. Wieder sog Michael den Anblick der alten Kulturlandschaft in sich ein, betrachtete die gestutzten Bäume, das Schild, das an einem dicken Stamm hing und verkündete, daß dieser Maulbeerbaum sechshundert Jahre alt war, die grünen Rasenflächen, die Sprinkler, die sich eifrig drehten. Ein paarmal mußten sie älteren Frauen in motorisierten Rollstühlen ausweichen und auf den Rasen neben dem geteerten Weg treten. Sie kamen am Kulturzentrum vorbei, an der Turnhalle neben dem riesigen Sportplatz, von dem begeistertes Schreien und das Aufprallen eines Balls zu hören waren, und an Spielplät zen mit Schaukeln und Rutschen. Leute in Arbeitskleidung kamen vom Schwimmbad herübergeradelt. »Ist es weit?« fragte Michael schließlich.
»Nein, gleich dort, in der Siedlung der Pioniere«, sagte Jojo,
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