Ochajon 03 - Du sollst nicht begehren
blickte ihn fragend an. Er fühlte in ihrer Gesellschaft eine Ruhe, die ihn selbst überraschte. Sie weckte in ihm ein Bedürfnis, ihr Freude zu machen, sie lachen zu sehen. Du willst ja nur Eindruck auf sie machen, sagte er sich, du willst sie erobern. Der Fanatismus, mit dem sie versuchte, Abstand zu wahren, machte ihn neugierig. Er spürte auch, wie empfindsam und verletzlich sie war, und das weckte in ihm den Wunsch, sie zu schützen und aufzupassen, daß es ihr gutging. Sie hatte so gar nichts Bedrohliches an sich, sie signalisierte nicht den Wunsch nach Erlebnissen, nach Beziehungen, und trotzdem fühlte er, daß sie ihn attraktiv fand und sich für ihn interessierte. Wenn er ihr Gesicht sah, die zarte, helle Haut, hätte er gerne ihre Wange berührt, doch am liebsten hätte er ihr unter die langen Ärmel geschaut. Er schob den Gedanken zur Seite, streckte seine Beine aus, nahm die Kaffeetasse, sah zu, wie sie ihren Tee rührte, und wartete. Auch sie wartete.
»Hast du irgend etwas für mich?« fragte er schließlich und wunderte sich schon über die Formulierung, als er die Frage noch nicht fertig ausgesprochen hatte.
»Ja und nein«, sagte Awigail. »Ich kann dir nur ganz allgemein erzählen, daß alle hier ziemlich geschockt sind, aber das hast du in den letzten Tagen wohl selbst mitgekriegt. Etwas Konkretes habe ich nicht, das heißt, ich habe nichts entdeckt, was als Motiv gelten könnte. Außer dem, was ich dir bereits über Guta und Fanja gesagt habe.«
»Erzähl mir trotzdem, was du bemerkt hast, mit allen Einzelheiten«, bat Michael und sah zu, wie sie aus der Küchenschublade zwei kleine, engbeschriebene Zettel herausholte. Er streckte die Hand aus und wollte nach ihnen greifen.
»Das wird dir nichts helfen«, sagte sie. »Das ist nur für mich«, meinte Awigail und beugte sich über die Zettel.
»Richtig ausdrücklich«, sagte sie nach einer Pause, »hat fast niemand die Sache erwähnt. Nicht nur das, auch im Speisesaal und sogar, als man mich im Kibbuz herumgeführt hat, als ich zum Kinderhaus gegangen bin, um zu kontrollieren, ob die Kleinen Läuse haben – wo ich auch hingekommen bin, überall konnte man an der Art, wie die Leute plötzlich schwiegen, merken, ob sie darüber gesprochen haben. Als ich im Speisesaal auf eine Gruppe zugegangen bin, war die Stille so dick, man hätte sie schneiden können. Nur Guta hat mir erzählt, daß Osnat ermordet wurde. Sonst hat keiner was gesagt.«
»Wirklich keiner?« fragte Michael.
»Ja, wenigstens nicht ausdrücklich. Höchstens hat mal einer ›in Anbetracht der Umstände‹ gesagt, so wie diese junge Frau, wie heißt sie doch gleich ...« Awigail beugte sich noch tiefer über den Zettel. »Schula. Sie wollte ein Beruhi gungsmittel, weil sie › angesichts der Umstände ‹ nicht beson ders gut schläft. Das war heute nachmittag. Sie war sehr blaß, mit dicken Ringen unter den Augen. Sie hat ausgesehen, als hätte sie wirklich nicht geschlafen. Dann kam noch Zwika. Er fing mit irgendeinem Projekt an, das er für die Kinder organisierte, es kam mir alles ein bißchen seltsam vor.«
»Wieso seltsam?«
»Er war außer Atem und voller Energie, das paßte irgendwie gar nicht. Auch er hat ›in Anbetracht der Umstände‹ gesagt. Ich habe es wiederholt: ›In Anbetracht der Umstände?‹, mit einem Fragezeichen am Schluß, aber er ist nicht darauf eingegangen. Mir ist nur aufgefallen, daß er völlig in dem Projekt für die Kinder aufgeht, er organisiert eine Schatzsuche für sie und wollte auch das Ambulanzgebäude mit einbeziehen. Übrigens, gestern abend war dieser Typ aus Aschkelon da, wie heißt er doch wieder, der mit den Hunden. Er hat alles gründlich abgesucht, keine Spur von Parathion.«
»Nun, das habe ich schon aufgegeben«, sagte Michael und starrte in seinen Kaffee.
»Außerdem gibt es hier so eine Art Stille«, fuhr Awigail nachdenklich fort und rührte lange ihren Tee. »Und ich kann dir noch sagen, daß dieses Kabelfernsehen, das sie hier haben, in manchen Zimmern bis spät in die Nacht gelaufen ist. Und es gibt eine Frau, Matilda, die redet und redet, ob man es will oder nicht. Ich habe sie gehört, als sie vor der Ambulanz auf die Medizin gewartet hat, die sie regelmäßig bekommt. Sie ist ein Original.«
»Ja, ich weiß, sie arbeitet in dem kleinen Laden.«
»Sie hat zum Beispiel von einer Frau erzählt, die die ganze Zeit fernsieht. Und Mojsch hat meiner Meinung nach einen blutenden Ulkus. Nach dieser Exhumierung seines Vaters
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