Ochajon 03 - Du sollst nicht begehren
Jemandem, mit dem Sie sich besonders intensiv unterhalten haben?« drängte Michael.
»Nun ja, das war nicht gerade ein Ereignis, bei dem man sich an jedes Wort erinnert«, meinte Mischa entschuldi gend. »Ich habe danach auch etwas darüber geschrieben, für unser Bulletin. Ich erinnere mich, daß über die gegenseitige Haftung gesprochen wurde, aber ich bin keine junge Frau, wie Osnat eine war, ich war schon bei vielen solchen Seminaren, ich habe es nicht so ernst genommen wie sie.« Er lächelte schüchtern und senkte den Blick. »Ich bin mehr dafür, daß man die Arbeit macht, die auch ohne das alles nicht leicht ist. Ich habe an dem Tag alte Freunde aus Kibbuzim im Norden getroffen. Mit Osnat habe ich kaum gesprochen, wir sind auch nicht gemeinsam nach Hause gefahren.« Er blickte zu dem zischenden Wasserkessel hinüber. »Das Ding kocht immer noch nicht«, sagte er. Das Lächeln verschwand von seinem Gesicht und machte einem Ausdruck von Verantwortlichkeit Platz. »Ich kann Ihnen nur eins sagen: Wenn sie etwas erwähnt hätte ... wie soll ich es ausdrücken, etwas Außergewöhnliches, dann würde ich mich bestimmt daran erinnern.« Er seufzte. »Wie schön sie war«, sagte er plötzlich.
»Was mich beunruhigt«, sagte Michael, »ist diese Aufzählung.« Er hielt Mischa das aufgeschlagene Bulletin hin.
Mischa zog an der dünnen schwarzen Kordel um seinen Hals und holte eine kleine Lesebrille hervor, die unter seinem weiten blauen Hemd mit den bis zum Ellenbogen hochgekrempelten Ärmeln verborgen gewesen war. Als er fertig gelesen hatte, legte er das Bulletin vorsichtig auf den Tisch, näher zu Mojsch als zu Michael, und nahm die Brille ab. Er sagte kein Wort.
»Was meinst du dazu?« fragte Mojsch.
»Ich weiß nicht, was ich sagen soll, ich versuche mich zu erinnern, es ist so viel geredet worden ...«
»Sie erinnern sich nicht daran, daß über diese Themen gesprochen wurde?« fragte Michael erstaunt.
»Doch, es wurde auch über Kriminalität gesprochen und über die Beschwerden, daß wir unsere Mitglieder zu sehr schützen, und jetzt fällt mir ein, daß sich Osnat über irgendeine Sache sehr aufgeregt hat, aber die Einzelheiten ...« Nun sagte er einen langen Satz auf Jiddisch, den Michael nicht verstand, ihm fiel nur auf, daß die Formulierung »alte kop« mehrmals vorkam. Am Schluß schüttelte Mischa langsam den Kopf und sagte: »Ich kann Ihnen nicht helfen.«
Dann wandte er sich mit kaum verhohlener Neugier an Mojsch: »Na, wie läuft es bei euch? Wie werdet ihr mit dem Ganzen fertig?« Und nach einigen Versuchen, ein paar Höflichkeiten anzubringen, sagte er schließlich: »Na ja, Kaffee gibt es wohl keinen mehr. Ich muß zurück, Uri wartet auf das Auto, mit dem ich gekommen bin.«
Erst in diesem Moment begann der alte Topf blubbernde Geräusche von sich zu geben. Mojsch zog vorsichtig den Stecker heraus und sagte: »Bist du sicher?«
»Ja«, antwortete Mischa.
»Ich bring dich zum Auto«, sagte Mojsch, ging hinter Mischa hinaus und schloß sorgfältig die Tür hinter sich. Michael hörte die Stimmen, die immer leiser wurden und dann verklangen. Nach ein paar Minuten kam Mojsch zurück und sagte: »Das war's. Mehr weiß ich nicht. Sprechen Sie mit Dworka.«
Auch das Gespräch mit Dworka, das im Lesezimmer neben der Bücherei stattfand, brachte keine Ergebnisse. Sie las aufmerksam den Artikel. Dann schaute sie Michael mit ihren blauen, tief in die Höhlen gesunkenen Augen über einen Stapel Bücher hinweg an. Obwohl sie allein im Raum waren, flüsterte sie: »Ich habe keine Ahnung. Ich erinnere mich vage daran, daß sie ganz verstört von dem Seminar zurückgekommen ist und gesagt hat, es wäre sehr aufschlußreich gewesen. Aber auch als ich diesen Artikel gelesen habe, ist mir nichts Besonderes aufgefallen. Allerdings muß ich jetzt, nachdem Sie mich darauf aufmerksam gemacht haben, zugeben, daß etwas Seltsames dran ist. Allerdings kann ich mir nicht vorstellen, daß es um etwas Konkretes geht.«
Michael fragte sie, ob Osnat vielleicht mit jemandem darüber gesprochen haben könnte. »Das weiß ich wirklich nicht«, antwortete Dworka und legte die Hand auf den Bücherstapel vor ihr. Wieder spürte Michael die Anspannung, die diese Frau in ihm hervorrief. Er betrachtete ihre alte Hand, ringlos und fast maskulin aussehend, die brau nen Flecken auf dem Handrücken, dann schaute er ihr in die Augen, deren besondere Kraft ihn unwiderstehlich anzog. Wieder fragte er sich, ob sie in ihrer Jugend
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