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Ochajon 04 - Das Lied der Koenige

Ochajon 04 - Das Lied der Koenige

Titel: Ochajon 04 - Das Lied der Koenige Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Batya Gur
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Theo nur ein paarmal gesehen habe und daß er ihn nicht genügend kenne.
    »Gut, bei mir strengt er sich auch besonders an, das hat Gabi mir erzählt. Theo gibt sich bewußt tolerant, was Gabi und mich anbelangt. Aber wer wirklich keine Vorurteile hat, der braucht auch nicht so krampfhaft Offenheit zu demonstrieren«, hatte er lächelnd hinzugefügt, »falls Sie dieses Phänomen kennen. Er ist freundlich zu mir, weil ich ihn angegriffen habe, und auch in diesem Zusammenhang hat er Wert darauf gelegt, für offen gehalten zu werden, offen für Kritik. Ich habe Kritik an seiner Interpretation geübt ... Interessieren Sie sich für Musik?«
    Michael hatte den Kopf geschüttelt. »Ich habe Interesse daran«, hatte er unbehaglich geäußert, »aber ich verstehe nichts davon.«
    »Nun gut, ich weiß nicht, warum ich mich mit ihm angelegt habe, es war nicht meine Absicht. Es war während einer Diskussion über Wagner«, hatte er lächelnd bemerkt, und zwei Reihen weißer, großer Zähne freigelegt und einen kleinen Hohlraum in der linken Mundhälfte, einen fehlenden Zahn, ein Makel des strahlenden Lächelns. Er hatte mit seiner tiefen, angenehmen Stimme gesprochen, und die senk rechte Kerbe zwischen seinen buschigen Brauen war tiefer geworden. Und als er sanft mit dem Finger über sein rech tes Ohr geglitten war, hatte Michael eine breite Narbe in der Nähe der Ohrmuschel bemerkt. Sein Gesicht war gründlich rasiert, und seine hellen, kleinen Augen leuchteten und zwinkerten in einer Art, die Michael an Gabi erinnerte. Der Gedanke an die Grimasse Gabriels, an seine geöffneten Augen, während er dort unter dem Pfeiler lag, hatte ihn an das Bild des abgeschnittenen Halses erinnert. Plötzlich waren ihm die Knie weich geworden, und gerade deshalb hatte er darauf beharrt, noch einmal zu fragen, ob Isi sicher sei, den ganzen Tag das Haus nicht verlassen zu haben.
    »Nicht mal zum Lebensmittelladen bin ich gegangen«, hatte Isi Maschiach versichert und seine große Hand auf seine Brust gelegt. Der Ring funkelte grünlich. Erst in die sem Moment, als wäre er aus einem Traum erwacht, hatte er die Brille abgezogen, die Augen gerieben, die rasch etwas rot wurden, und hatte aufmerksam und freundlich nach dem Grund der Frage gefragt, und was denn heute eigentlich vorgefallen sei. Seine Schultern hatten sich gestreckt, er hatte sich aufgerichtet und von der Rückenlehne des weichen Sofas Abstand genommen.
    Michael hatte Isi die Fakten vorgetragen. Er hatte peinlichst darauf geachtet, die Saite, die Handschuhe und Gabriels Körperlage unerwähnt zu lassen. »Eine durchgeschnittene Kehle«, waren die Worte, die er benutzte, um die Todesursache zu schildern. Er hatte sich bemüht, die nötige Distanz zu wahren. Er wollte Isi beobachten und herausfinden, ob irgend etwas an seiner Reaktion nicht echt war. Eines Tages würde er all seine Eindrücke über den ersten Moment, in dem ein Mensch vom Tod eines Angehörigen erfährt, zusammenfassen.
    Man konnte sie in Kategorien einteilen. Zunächst die Gefaßten gegenüber den Ungefaßten. In dieser Klassifikation lag möglicherweise ein Hinweis auf die Herkunft des Trauernden – die leise und beherrschte, aber aufdringliche Trauer der polnischen Einwanderer im Gegensatz zu der lauten Trauer beispielsweise der marokkanischen Juden, bei der es oft so aussah, daß der Ritus den genauen Moment vorschrieb, in dem man einen Schrei ausstieß. Man mußte auf irgendeine Weise die gefaßten Weinenden als eine eigene Untergruppe betrachten. Und dann gab es noch eine weitere Gruppe, die völlig reglos blieb. Diese Menschen vergossen nicht nur keine Träne, sie erschienen in dem Moment, in dem sie die schlechte Nachricht hörten, auch ganz entrückt, und ihre Gesichter sahen wie Masken aus. Wenn man sie fragte, was sie fühlten, wußten sie nicht, was sie antworten sollten. Die Gruppe hatte Elro'i gemeint, als er von Absence gesprochen hatte. Es gab auch eine Kategorie Menschen, die leise weinten, ohne Tränen, und solche, die Tränen vergossen. Es gab Menschen, die sich einem zwanghaften Redefluß hingaben, wie Theo, und solche, die totenstill wurden. Es gab Menschen, die leise und stimmlos weinten und deren Weinen einem naheging, aller Gewöhnung und aller Abstumpfung zum Trotz. Es berührte einen, wie es bei Isi Maschiach nun der Fall war.
    Isis Schultern bebten, sein Gesicht lag in seinen Händen. Zweimal fragte er, ob es auch wahr sei und wann es geschehen sei, ob er gelitten habe und wie genau es

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