Ochajon 04 - Das Lied der Koenige
erinnern«, sagte sie angestrengt.
Er fragte sie nach dem Einpacken der Instrumente, tastete sich mit seinen Fragen nach den Leuten vor, die auf der Bühne zurückgeblieben waren. Er versuchte herauszufinden, ob sie bemerkt hatte, wie Gabi hinter die Bühne ging. Ihre Augenbrauen hoben sich mühsam. Sie habe kein Bild vor Augen, sagte sie mit leerer Stimme und kehrte zu ihrer abgehackten Sprechweise zurück, einem Stottern, das un wirklich erschien. Sie zog die Augenbrauen über der kleinen Nasenwurzel zusammen.
»Erinnerst du dich, ob der erste Geiger, wie heißt er noch, dieser Awigdor, auf der Bühne war? « Sie schüttelte schwach den Kopf. »Und Frau Agmon, die Geigerin, die Gabi gesucht hat?«
»Nichts«, murmelte Nita und verbarg ihr Gesicht in den Händen. »Nichts, völliger Blackout.«
»Sie wollte mit Gabi über ihren Mann sprechen«, versuchte er es. Doch sie schüttelte entschieden den Kopf und sprach von völliger Dunkelheit. Sie konnte sich an keinen Schritt auf der Bühne erinnern, sie konnte nicht einmal mit Sicherheit sagen, ob sie überhaupt auf der Bühne war, aber sie wußte auch nicht, ob sie sich woanders aufgehalten hatte. »Es ist«, sagte sie dumpf, »als wenn man sich an eine Kindheitsgeschichte erinnert, an die man keine wirkliche Erinnerung hat, die man nur aus Erzählungen kennt, die man von einem Photo aus einem Album hat, ganz anders, als wenn man es wirklich erlebt hat. So ging es mir bis zu dem Moment, in dem ich über Gabi stand ... in dem ich Gabi sah.« Erst jetzt begann ein Tränenstrom die hohlen Wangen zu befeuchten.
»An einen bestimmten Zeitabschnitt erinnere ich mich einfach nicht«, sagte sie schluchzend. »Als ob es einen Abgrund in der Mitte gäbe.« Plötzlich wurde ihr Körper steif. Sie richtete sich auf.
»Was ist los!« fragte er angespannt.
»Es war ... mir ist eingefallen, einmal, in einem Hotel in Columbus, Ohio, wo ich nach einem Kammerkonzert übernachtet habe, habe ich einen alten Film gesehen. Der Film hieß Eva mit den drei Gesichtern , kennst du ihn?«
» Eva mit den drei Gesichtern ?« sagte er verwundert. »Ja, ich kenne ihn. Es ist ein Film aus den fünfziger Jahren. Du bist noch viel zu jung, um ihn zu kennen ... Ach ja, du hast ihn in einem Hotel in Amerika gesehen. Es ist ein Film mit Joanne Woodward. Sie hat wunderbar gespielt.«
»Sie hatte zwei Persönlichkeiten, und eine wußte nichts von der anderen. Schon damals habe ich von dem Film furchtbare Angst bekommen, danach konnte ich die ganze Nacht nicht schlafen.«
»Er hat ein gutes Ende. Ich glaube, sie hat noch eine dritte Persönlichkeit, und die gewinnt«, sagte er wie im Traum, und es fiel ihm ein, wie ihn sein Onkel Jacquau, der jüngere Bruder seiner Mutter, zu einem Holzstuhl in der mittleren Reihe gebracht hatte, auf die Uhr schaute und verkündete, daß er mal telefonieren müsse. Er versprach, gleich wieder zurück zu sein, kam aber erst bei den letzten Bildern wieder. Auch in ihm hatte dieser Film große Angst ausgelöst.
»Die schwarze Eva, die aus der weißen Eva heraus handelt, legt einen Strick um den Hals ihrer Tochter und versucht sie zu erdrosseln«, sagte Nita geistesabwesend und schlang die Arme um sich. »Zum Glück erscheint ihr Mann, als das Kind vor Angst schreit, und sie verliert das Bewußtsein und erwacht als die weiße Eva, die Hausfrau mit ständigen Kopfschmerzen, die sich an nichts erinnert. Ich hatte das ganze letzte Jahr über auch schreckliche Kopfschmerzen.«
Er schwieg und ließ seine Hand über ihren Arm gleiten.
»Sie hat dem Arzt gesagt, sie habe nichts getan. Sie konnte sich an nichts erinnern. Sie war gewiß von ihrer Unschuld überzeugt«, sagte Nita erregt.
Er dachte an das demütige Gesicht der Hausfrau Joanne Woodward, das sich vor Schmerz verzerrte, an ihre Hände, die sich in ihre Spitzenkragen verkrampften. Er meinte sich an einen Spitzenkragen zu erinnern und an einen albernen Hut.
»Gott sei Dank hast du den Film auch gesehen«, murmelte Nita. »Dann denkst du wenigstens nicht, daß er nur Einbildung ist. Der Arzt erklärt ihr in dem Film, daß sie nicht geistesgestört ist, daß sie vielmehr an einer Persönlichkeitsspaltung leidet.«
Er schwieg und dachte daran, wie er den Film gese hen hatte, nervös, wie Onkel Jacquau, der ihn mitgenommen hatte, nicht zurückkam und der Sitzplatz rechts von ihm leer blieb. Und wie er zum ersten Mal eine großartige schauspielerische Leistung erkannte. »Sie hat fabelhaft gespielt«, hörte er
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