Ochajon 04 - Das Lied der Koenige
Michael senkte den Kopf und schloß die Augen. Ihn fröstelte. Er schlug die Augen auf und sah sie an. Sie rührte sich nicht. Ihre Augen ließen nicht ab von dem hellblauen Bettvorleger, als liefen die Blutbäche und Blutflüsse auf ihm zusammen.
»Es hängt vermutlich damit zusammen, daß ich glaubte, für meine Dummheit eine Strafe zu verdienen. Als ob dieser einfältige Kopf weg müßte, der so leichtgläubig gewesen ist und der trotz besseren Wissens so gutgläubig war.«
»Deshalb hast du die ganze Zeit nicht gespielt«, flüsterte er, was ihm in dem Moment klarwurde, während er sprach. Er hatte den Eindruck, daß er die Worte herausschrie.
»Deshalb habe ich nicht gespielt«, bestätigte sie. »Alle dachten, meine Depression sei der Grund, mein Liebeskummer. Aber nein, es war einfach die Angst. Ich wollte so gern spielen! Es war so ... aber jedesmal, wenn ich das Cello ansah, sah ich die Saite. Und immer wenn ich die Saite sah, dachte ich an den abgetrennten Kopf, das hat mir die Freude an der Musik verdorben. Diese Panik hat mir die Musik verdorben.«
Eine Mischung aus Trauer und Grauen überwältigte ihn, und darum hörte er sich fragen: »Warum hast du mir nicht vorher davon erzählt?«
»Ich konnte nicht. Ich wollte es, aber ich konnte nicht. Schon bevor ich dich kennenlernte, habe ich begonnen ... Ich dachte, es geht allmählich vorbei. Später, als du dann da warst, wurde es besser. Als Vater ... als mein Vater ... Als mein Vater starb, ist es wiedergekommen. Aber ich habe mir gesagt, daß es von allein vorübergehen würde. Ich konnte nicht«, flehte sie ihn an, »ich konnte es nicht in Worte packen. Es war so, so lebendig und real ...«
Er ließ ihre Hand los und sah sie an. Die gelbliche Hautfarbe, die Augen, die tief lagen, in die dunklen Halbmonde getaucht, das Graublau, das von dem schwarzen Kreis umringt war. Das weiche Licht der Nachttischlampe, neben der sie saß, hüllte sie ein. Ihre Lippen zitterten, und zu beiden Seiten ihres Mundes gruben sich tiefe Furchen ein. Ein dü sterer Schatten füllte die hohlen Wangen. Das Kinn bebte, alle anderen Gesichtszüge schien sie gewaltsam anzuspannen.
»Und heute«, flüsterte sie, »als ich Gabi sah, nicht nur daß Gabi ... daß Gabi ... daß ich Gabi nicht mehr habe, das habe ich auch noch gar nicht begriffen, und nicht nur, daß einer, der diesen Anblick hinter sich hat, ihn sein Leben lang nicht mehr vergessen kann, hatte ich zu allem auch noch das Gefühl, mich selbst dort zu sehen. Als hätte jemand eine Vision kopiert, mein Bild, von dem ich keiner Menschenseele je ein Wort erzählt habe. Als ob jemand davon wußte und Gabi etwas angetan hat anstatt mir. Irrtümlich. Gabi war ein Versehen.«
Sie hob die Augen, drehte sich zu ihm um und sah ihm ins Gesicht: »Ich hätte dort mit dem abgeschnittenen Hals liegen sollen, ich und nicht Gabi!«
Er faßte erneut nach ihrer Hand und spürte ihre Kälte. Von Moment zu Moment wuchs seine Angst.
»Plötzlich sah ich vor mir, wie es in Wirklichkeit aussieht. Wie es ausgesehen hätte, wenn ich es getan hätte. Ich denke ... ich fühle ... als ob ich jemandem beigebracht hätte, wie man es macht. Oder ... oder ich habe es sogar selbst getan.«
Ausgerechnet in diesem Moment begann die Angst in ihm nachzulassen. An ihrer Stelle spürte er den Anfang eines Aufklarens, einer ernüchterten Kühle. »Was soll das heißen, daß du es selbst getan hast?« fragte er streng und distanziert. »Hast du es getan?!«
»Ich glaube nicht«, flüsterte sie und hob die aufgerissenen Augen zu ihm. »Stimmt es, daß es gar nicht sein kann?« stammelte sie. »Stimmt es, daß es nicht sein kann? Es kann doch nicht sein, daß ich es getan habe, ohne es zu wissen. Wäre es möglich?!« fragte sie entsetzt und griff kraftvoll nach seinem Arm. Jetzt war er gespalten, ein Zwillingspaar: einer, der vor Schreck, vor Angst, vor lauter Überflutung mit stürmischen, zerrissenen Gefühlen völlig aus dem Konzept war, und einer, der mit einer beherrschten, abweisenden, strengen Stimme fragte: »Glaubst du wirklich, daß du es getan hast?«
»Ich sage dir doch, nein. Es ist unmöglich. Du weißt, daß ich Gabi geliebt habe. Aber wie kann es sein, daß man so genau in die Tat umgesetzt hat, was in meinem Kopf herumgeistert und von dem bisher nur ich wußte. Wie ist so etwas möglich? Vielleicht ist die einzig mögliche Antwort, daß ich es unbewußt getan habe.«
»Unbewußt«, wiederholte er ihre Wort. »Unbewußt.« Er wurde
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