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Ochajon 04 - Das Lied der Koenige

Ochajon 04 - Das Lied der Koenige

Titel: Ochajon 04 - Das Lied der Koenige Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Batya Gur
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zusammen. »Ich kann es nicht sehen«, sagte sie flüsternd. »Ich kann es nicht sehen. Hinter dem Pfeiler. Der Pfeiler verdeckt ihn.« Plötzlich brach ein fürchterlicher Schrei aus ihr.
    »Antworten Sie nicht! Sie geben keine Antwort!« sagte der Arzt schnell. Aber sie bebte am ganzen Körper. »Sie können sich nicht erinnern, wen Sie gesehen haben. Wer dort stand, spielt keine Rolle«, sagte der Arzt in einem sicheren, ruhigen Ton.
    Michael sah ihre Beine, die sich entspannten und das Gesicht, in das die Farbe zurückkehrte. Ein starkes Gefühl der Frustration überkam ihn. Der heftige Wunsch, sie zu rüt teln. Der Wunsch löste Schuldgefühle in ihm aus.
    »Sie stehen im Flur«, sagte der Arzt, nachdem ihre Atemzüge sich gelegt hatten und ihre Augen weit geöffnet waren. »Haben Sie eine Saite in der Hand?«
    Sie schüttelte den Kopf. »Keine Saite«, sagte sie wie unbeteiligt. »Die Saiten sind bei meinem Cello.«
    »Nachdem Sie Gabi gehört haben, der sich gegen den Pfeiler lehnt, bleiben Sie dort stehen?«
    »Ich darf nicht hinhören«, sagte sie, und wieder machte der gelblich-graue Ton ihrer Haut fahlem Weiß Platz. »Ich darf nicht hinhören.«
    »Bleibst du nicht stehen?«
    »Ich gehe schnell. Ich gehe auf den Zehenspitzen, damit sie nicht bemerken, daß ich etwas gehört habe ...« Nita krümmte sich in ihrem Sessel. Sie warf den Kopf hin und her.
    »Du gehst schnell. Wohin gehst du?«
    »Zur Bühne. Alle sind noch auf der Bühne«, sagte sie. Ihre Brauen waren zusammengezogen, aber ihr Körper krümmte sich nicht mehr. »Sie packen ein und unterhalten sich, und Frau Agmon, die Geigerin, schreit.«
    »Was schreit sie denn?«
    Nita lächelte. Ein kleines, freudloses Lächeln. Ohne Grüb chen. »Es ist nicht in Ordnung. So benimmt man sich nicht. Heute entgeht er mir nicht!«
    »Wer ist noch auf der Bühne?« fragte Michael und sah, wie sie sich bemühte, sich an das Bild zu erinnern. Er hörte, wie sie nacheinander den ersten Geiger, die Oboistin, die Klarinettistin, die Bassisten, die Bratschisten, die sie nament lich erwähnte, aufzählte. Eine Menge, viele«, sagte sie schließ lich erschöpft.
    »Wo ist Gabi?«
    »Er ist nicht da, er ist nicht da«, sagte sie klagend und ballte die Fäuste.
    »Und Theo?«
    »Er ist nicht da«, wiederholte sie im gleichen Tonfall, und ihre Finger verkrampften sich.
    »Aber Sie sind da?« beeilte der Arzt sich zu sagen.
    »Ich? Ja, ich bin in der Ecke.«
    »Und Sie haben Gabi lebend gesehen?«
    »Er ist gegen den Pfeiler gelehnt«, sagte sie vorwurfsvoll.
    »Er spricht. Gabi spricht«, rief der Arzt ihr in Erinne rung.
    Sie blinzelte.
    »Stehen Sie mit einer Saite hinter ihm?«
    »Nein. Wieso denn?« wunderte sich Nita. »Er steht dort, und ich bin hier.«
    Da haben Sie es, schien der Arzt mit seiner Geste zu sagen. »Es reicht für heute«, sagte er laut. »Ich werde sie wecken.«
    »Aber ... Nur noch eine Frage, mit wem er sprach ... Zumindest, ob es ein Mann oder eine Frau war«, bat Michael eindringlich.
    »Ich dachte, wir haben uns verstanden. Sehen Sie nicht, wie sehr diese Frage sie quält? Auch so haben wir schon übertrieben. Was Sie wissen wollten, wissen Sie jetzt. Was sie selbst interessiert hat, wissen wir ebenfalls. Es liegt keine Persönlichkeitsspaltung vor. Sie hat niemanden umgebracht. Wir begnügen uns damit«, bestimmte er und wandte sich an Nita.
    Michael hörte nur mit halbem Ohr die Anweisungen, die in einem autoritären, beruhigenden Ton erteilt wurden.
    »Sie erinnern sich an alles!« sagte der Arzt. »Aber nicht an die Frage, mit wem Gabi sprach«, sagte er zweimal. »Ich werde Sie jetzt wecken. Sie werden ruhiger sein. Sie werden sich gut fühlen. Wie nach einem tiefen Schlaf. Sie wissen jetzt, daß Sie nichts Böses getan haben. Sie haben niemanden ermordet. Sie haben nichts mit der Saite gemacht. Es waren nur Ihre Phantasien.«
    Michael lauschte dem Countdown und verspannte sich, als Dr. Schumer in die Hände klatschte. Langsam, als könne sie sich nicht von etwas trennen, kehrte Nita in die Welt zurück. Sie schloß die Augen, öffnete sie und befühlte die Lehnen des Sessels.
    »Wie fühlen Sie sich? « fragte der Arzt, und sie sah ihn mit traurigen, ruhigen Augen an.
    »Es geht schon«, sagte sie verwundert. »Besser, denke ich.« Sie sprach mit ihrer normalen Stimme.
    »Woran erinnern Sie sich?« fragte der Arzt.
    Sie sah Michael an, und ihre Lippen erschlafften. »Ich habe es nicht getan«, sagte sie und tastete in einer ähnlichen

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