Ochajon 04 - Das Lied der Koenige
was ich weiß. Alles was ich weiß, ist, daß wir seine einzige Familie waren. Aber wir haben nie darüber gesprochen. Er hat in dem Laden gelebt, für den Laden. Er war es, der nach den Noten gesucht hat und der seltene, seltsame Aufnahmen und Stücke, die niemand in der Stadt kannte, aufspürte.« Er wurde still.
»Und sein Wahn, seine Krankheit, hat sie schon vor zwanzig Jahren begonnen?« lenkte Balilati das Gespräch zurück in seine Bahn.
»Mein Vater hat ihn zu einem Arzt gebracht. Ich erinnere mich daran, wie er mit Mutter darüber sprach – ich habe es einmal nachts gehört. Sie dachten, ich wäre nicht zu Hause. Ich war schon erwachsen und verbrachte meinen Urlaub in Israel, zusammen mit meiner ersten Frau ... Das spielt jetzt keine Rolle. Sie sprachen von einer Depression. Das war die Diagnose des Arztes. Später hat mein Vater ihn nach Talbiyeh gebracht, in die Ambulanz, denn Herzl wollte nicht aufstehen, nicht sprechen, hat nicht reagiert. Das hat mir meine Mutter später bestätigt. Es ist lange her. Sie sprach sehr allgemein, ging nicht ins Detail. Sie hat mit sich gerungen, ob sie Nita davon erzählen sollte oder nicht. Denn Nita war schon immer sehr sensibel, und Mutter wollte sie nicht beunruhigen. Ich glaube, daß sie Nita, die noch sehr jung war, nur sagte, sie brauche sich vor Herzl nicht zu fürchten, er stelle für niemanden eine Gefahr dar, höchstens für sich selbst. Mir hat meine Mutter erzählt, daß er lebensmüde sei.«
»Und später?« fragte Michael. »Nach dieser Attacke?«
»Alle paar Jahre ist er verschwunden. Mal für einen Monat, mal für länger. Er bekam Medikamente, aber ich weiß nicht, ob sie überhaupt geholfen haben. Mein Vater hat mir vor einem Jahr gesagt, daß sich sein Zustand gebessert hatte. Daß die Krankheit nachgelassen hatte, daß seine Depressionen schwächer wurden, aber später ist er immer selbst zur Klinik gegangen. Er hatte Angst, daß er sich etwas antun würde. Zweimal bekam er sogar, glaube ich wenigstens, eine Behandlung mit Elektroschocks. Er hat behauptet, daß es ihm geholfen hat.«
»Das heißt, daß Sie mit ihm darüber gesprochen haben?« fragte Michael. »Haben Sie nicht behauptet ...?«
Theo wurde verlegen und schien verwirrt. »Nur einmal vor zwei oder drei Jahren haben wir das Thema angeschnitten«, gestand er.
»Der Arzt hat mir erzählt«, mischte Balilati sich ein, »daß er mit einem leeren Einkaufswagen zu Fuß vom Hadassah Ein Kerem bis zum Stadtzentrum gelaufen ist. Er schob den leeren Einkaufswagen in einem weißen Schlafanzug die Hauptstraße entlang. Er ist dort in der Golomb-Straße beinahe überfahren worden. Schließlich ist er nach Talbiyeh gekommen.«
Balilati beugte sich vor. »Der Arzt in Talbiyeh hat gesagt, er hört Stimmen. Ich verstehe nichts davon, aber bezeichnet man so was als Depression?«
Theo zuckte die Schultern. »Möglich«, murmelte er, »ich bin kein Psychiater. Wenn man seine Wohnung betritt, sieht man gleich, daß man es mit einem Verrückten zu tun hat. Alles ist vernachlässigt, die ganzen Sachen, Papiere, Noten, seltene alte Instrumente, alles liegt dort kunterbunt durcheinander, zusammen mit leeren Flaschen, zerknülltem Pa pier und ... Schmutz! Es gab Tage, an denen er nichts zu sich nahm. Er ist ein kranker Mensch, aber ich glaube nicht, daß er gefährlich ist. Er wird niemandem etwas zu leide tun.«
»Sie haben ihm nichts vom Tod Ihres Vaters gesagt«, erwähnte Michael.
»Wie auch«, murrte Theo, »er lag im Krankenhaus, das wissen Sie doch.«
»Aber er ist ansprechbar«, hakte Michael nach.
»Zunächst wußte ich gar nicht, wo er ist«, warf Theo unwirsch ein. »Es wäre Ihre Aufgabe gewesen, ihn ausfindig zu machen.«
»Sie waren uns dabei nicht gerade eine Hilfe. Keiner von Ihnen, auch nicht Ihr Bruder, hat uns die nötigen Informationen gegeben«, bemerkte Balilati giftig. »Sie hätten damals, nach der Sache mit Ihrem Vater, sogar mit ihm reden können. Haben Sie es denn nicht versucht?«
»Ich habe nicht nach ihm gesucht. Mir gingen andere Dinge im Kopf herum. Ich hatte andere Probleme, daß mein Vater tot war, und wie er ums Leben gekommen war. Und ich war sehr mit dem Orchester beschäftigt. Ich habe zu tun«, sagte Theo verbittert. »Man konnte sowieso nicht im mer mit ihm sprechen«, versicherte er. »An mir hing er noch mehr als an Gabi, und vor allem mehr als an Nita. Aber am meisten hing er an Vater. Für Vater hätte er sein Leben gegeben. Ich meine es ernst.«
»Wenn das
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