Ochajon 04 - Das Lied der Koenige
Blut? Hätte er kein Verständnis dafür?« fragte Bali lati. »Würde er nicht verstehen, daß jemand unter Schock steht, weil sein Bruder ein paar Tage vorher abgeschlachtet wurde?«
»Was soll ich denn machen? Soll ich Ihnen gestatten, mein Leben auf den Kopf zu stellen? Soll ich meine ganze Zeit damit verbringen, mich mit Ihnen zu unterhalten? Soll ich hier sitzen und Däumchen drehen? Soll ich mich einzig und allein um meine Schwester kümmern? Ich kann ihr auch nicht helfen. Die Arbeit zumindest lenkt mich ab von diesen schrecklichen Ereignissen. Es gibt ja auch noch kein Begräbnis. Ich werde hier nicht verkümmern und mich vor den Journalisten verbergen, die mir auflauern, wann immer ich meine Wohnung verlasse oder die Wohnung Nitas, und die sogar hier den Ausgang belagern. Wissen Sie, daß sie draußen warten? Ich habe sie gesehen, als ich gekommen bin. Dieses Telefon, das die ganze Zeit läutet! Bei Nita meldet sich meistens niemand, wenn man den Hörer abhebt. Nein, Sie können mich nicht daran hindern zu arbeiten! Bin ich etwa Ihr Gefangener? Wieso belästigen Sie Gott und die Welt?« Jetzt lag auch eine Anklage in seinem Angriff, als fühle er sich angefeuert. »Dora Sackheim, unsere Geigenlehrerin, hat mich angerufen. Wie können Sie so eine alte Frau belästigen. Was versprechen Sie sich von ihr? Sie hat mir gesagt, daß Sie ein Treffen mit ihr vereinbart haben«, warf er Michael vor. »Was haben Sie bei ihr zu suchen? Wis sen Sie, wie viele Jahre vergangen sind, seit sie das letzte Mal mit mir oder Gabi gesprochen hat? Sie kann kaum noch gehen ...«
»Ihr Bruder hat vor ein paar Wochen mit ihr gesprochen«, sagte Michael. »Wir können nicht wählerisch sein, und wir können niemanden schonen. Hier geht es um zwei Mordfälle. Ich spreche mit jedem, der mit Gabriel Kontakt hatte.«
»Was ist dieses Beth Daniel genau? Es ist in Zikhron Yaa kov, nicht wahr?« fragte Balilati zornig.
»Es ist ein Musikzentrum«, antwortete Theo ungehalten. »Dort wird Kammermusik gemacht. Manchmal veranstal ten sie auch Festivals und Konzerte, aber vor allem Work shops für junge Künstler ... Woher wissen Sie eigentlich, daß Gabi bei Dora Sackheim war?«
»Wer hat gesagt, daß er bei ihr war? Ich habe nicht gesagt, wer bei wem war. Ich sagte nur, daß er mit ihr gespro chen hat«, bemerkte Michael freundlich. »Sie wissen, daß er bei ihr zu Hause war?«
Theo errötete und wurde still. »Sie verläßt kaum noch das Haus«, murmelte er, »darum dachte ich ...«
»Hat Gabi Ihnen von seinem Gespräch mit ihr erzählt?«
Theo schüttelte den Kopf.
»Beth Daniel ist in Zikhron Yaakov, stimmt's?« wollte Balilati wissen.
Theo nickte.
»Wenn er nach Beth Daniel fährt«, warnte Balilati Michael, als wären sie allein im Raum (»Nicht wahr? Dort fahren Sie hin? Auch Ihre Schwester?« fragte er Theo, der nickte), »fährst du mit, ja?«
Michael schwieg. Ihn störte nicht, daß sein Image in Theos Augen durch die Anweisung, die Balilati ihm mit deutlicher Grobheit erteilt hatte, erschüttert wurde. Viel mehr beunruhigte ihn der Gedanke an eine Ungereimtheit in der Geschichte mit dem verrückten Angestellten, von dem Nita bisher nichts, aber auch gar nichts erzählt hatte. Er versuchte, sich an ihre Reaktionen zu erinnern, als er etwas über den Streit zwischen Herzl und ihrem Vater in Erfahrung bringen wollte. Aber es schien ihm jetzt, daß er wegen seiner Zerstreutheit in den letzten Tagen übersehen hatte, daß sie ihm auswich. Sie wollte nicht über dieses Thema reden, das sie nervös machte. Er war so sehr darauf konzentriert gewesen, sie zu beruhigen, ein Unternehmen, das ohnehin aussichtslos war, tadelte er sich. Und er war so sehr darauf bedacht gewesen, die Krise, in der sie sich seit dem Tod ihres Vaters befand, nicht noch zu verschärfen, daß er sogar nach der Hypnose, in seinen Gesprächen mit ihr, nicht an das Thema Herzl tippte, nicht fragte, was ge nau mit ihm passiert war und wer er in Wahrheit war.
»Also kein Lügendetektor«, erinnerte Balilati.
»Nicht zu diesem Zeitpunkt«, präzisierte Theo. »Nicht heute und nicht morgen.«
»Und ein Gespräch mit Herzl?«
»Um herauszufinden, wo er an dem Abend war, an dem mein Vater starb? Dazu bin ich eventuell bereit«, zögerte Theo. »Aber nur unter vier Augen. Er und ich. Später werde ich Sie dann über unser Gespräch informieren.«
»Warum?« fragte Michael interessiert. »Warum ist es Ihnen so wichtig, daß Sie mit ihm unter vier Augen
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