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Ochajon 05 - Denn die Seele ist in deiner Hand

Ochajon 05 - Denn die Seele ist in deiner Hand

Titel: Ochajon 05 - Denn die Seele ist in deiner Hand Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Batya Gur
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sie wollte nichts aufwühlen, aber nachher, denke ich, hatten sie die Absicht ...«
    »Aber du hast verlangt, dass Zila dir die Protokolle von dem Ausschuss besorgt, oder?«, fragte Balilati nach kurzem Schweigen.
    »Ich hab’s noch nicht geschafft, sie durchzugehen«, antwor tete Michael und hörte selbst die verlegene Entschuldigung in seiner Stimme.
    »Aber ich, ich hab Zeit gehabt, in der Nacht, als du beschäf tigt warst«, Balilati zwinkerte, »sie hatte schon einen Teil von den Protokollen gekriegt, und ich hab angefangen zu lesen, nicht nur, weil du darum gebeten hast, sondern auch, weil ich ... noch vorher, ich hab dir schon gesagt, dass ich so ein Gefühl habe, das mit diesem Rosenstein ist nicht von ungefähr, sondern da ist ... hab ich’s dir gesagt oder nicht?« Wie üblich ohne die Antwort ab zuwarten, fuhr er fort: »Es gibt da grauenhafte Geschichten! Einfach kaum zu glauben, dass es die Wahrheit ist, das sag ich dir, schlicht unglaublich. Aber du gehst jetzt besser los und redest mit ihr«, fiel ihm plötzlich mit Blick auf Esther Chajun wieder ein, »die arbeitet seit siebenundzwanzig Jahren dort, bei Frau Rosenstein, ich hab sie gefragt, als sie wegen dem Mädchen ankam, und sie hat mir sofort gesagt: ›Jeden Tag außer Schabbat und Feiertag.‹ Siebenundzwanzig Jahre, stell dir das vor, sechs Tage die Woche, ich hatte das Gefühl ... ich sag’s dir – die weiß alles, was man wissen muss. Allerdings, sogar wo sie völlig benommen war, wollte sie nicht mit mir reden. Sie weiß was, aber sie will nicht. Das heißt, loyal ihrer Chefin gegenüber, aber du wirst schon was aus ihr rauskriegen. Du« – sein Gesicht nahm einen nachdenklich versöhnlichen Ausdruck an –, »das ist dein Gebiet. Jeder ist in irgendwas gut. Ich bin gut in Informationen, darum bin ich beim Nachrichtendienst, du bist gut in Ermittlungen. Du hättest Psychologe werden sollen, hast du mal daran gedacht, Psychologie anstatt Jura zu studieren?« Er stülpte mit erzürntem Ausdruck seine Lippen vor, fuhr sich mit der Zunge über die Ober- und danach über die Unterlippe. »Du bist einfach bloß an die Uni zurückgegangen, du hättest von Anfang an Psychologie studieren sollen. Was hast du denn von deinem Abschluss?«
    Michael blickte wieder zu Esther Chajun hinüber, die, ohne sich dessen bewusst zu sein, mit ihren verkrümmten, dunklen Fingern frischen Klee ausriss und die Stängel zerrieb, immer wie der daran zerrte und losließ, als habe sie einen verwickelten Fadenknäuel zu entwirren. Wie eine Schar aufgescheuchter Hühner wandte sich der Kreis der Nachbarinnen mit einem Schlag von ihr ab, jede ging ihres Weges, und auf einmal saß sie allein da. Michael näherte sich ihr und stellte sich neben sie, mit seinem Körper einen großen Schatten über sie werfend, und ging dann in die Hocke, sehr nahe an ihren bandagierten Beinen. Der Geruch von Reinigungsmittel und Schweiß, den sie ausdünstete, stach ihm in die Nase, und vor seinen Augen hatte er die verwaschenen blauen Blumen auf dem schwarzen Grund ihres Kleids.
    Sie richtete ihre kleinen Augen auf ihn, blinzelnd im Sonnenlicht.
    »Frau Chajun«, sagte er leise, »vielleicht sollten wir hineingehen und uns drinnen ein bisschen unterhalten. Ich möchte, dass Sie mir alles über Nesja erzählen.«
    Ohne ein Wort stützte sie sich auf seinen Arm und erhob sich von dem Strohhocker. Ganz langsam, mit Trippelschritten, ging sie voraus zu ihrer Wohnung, deren Tür weit offen stand. Ihre Beine trugen den schweren Körper nur mühsam und klatschten gegen den Saum des Kleides. Aus ihrem krausen, zerzausten Haar hatten sich Strähnen aus den Nadeln gelöst, die wie die unheilvollen Vorboten eines Tohuwabohus wirkten.
    »Das ist ihr Zimmer«, sagte sie mit rauer Stimme und deutete auf den Raum neben der Eingangstür. Halbdunkel herrschte in der Wohnung, verstärkt durch die stumpfen grauen Fliesen. Ge blümte, verblichene Laken waren über dem Sofa im Wohnzimmer ausgebreitet.
    »Sie haben dort schon gesucht, in ihrem Zimmer, haben alles auf den Kopf gestellt«, sagte sie und klopfte mit der Hand auf ihren schweren Oberschenkel, »haben ihre ganzen Kleider raus geholt wegen ihrem Hund, damit er was zum Riechen hat, wol len Sie auch noch nachschauen?«, fragte sie und hielt die Tür fest, damit sie nicht zufiel. Wieder warf er einen Blick auf das schmale Bett, die nackte Matratze, auf die Wachsunterlage und die weiße abgezogene Bettwäsche – man musste kein Psychologe sein, um zu

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