Ochajon 05 - Denn die Seele ist in deiner Hand
nämlich am Abend vor dem Fest und in der Nacht, als Zohra ermordet wurde. Michael hatte nicht die Absicht, etwas darauf zu erwidern, doch ausgerechnet Natanael, der ihn beschworen hatte, Stillschweigen darüber zu bewahren, war es, der aufgab, als sei er mit einem Mal der ganzen Lügen und Geschichten überdrüssig.
»Am Anfang hat er gesagt, dass er in der Universität und beim Einkaufen war«, stieß Hagar hervor, »und gestern zu Hause hat er mir gesagt, dass er bei Linda O’Brian war, also will ich jetzt wissen, ist das die Wahrheit? Bei Linda? Es ist mir lieber, ich weiß es, als dass ich belogen werde, denn Lügen kann ich nicht ausstehen ... und er, der saubere Bürger der Gemeinde, der alleranständigste und ordentlichste«, bei den letzten Worten bebte ihre Stimme, »er war also mit Linda zusammen? Dass er sich nicht in Grund und Boden schämt!« Michael breitete, nachdem er Natanael Baschari einen Augenblick angesehen hatte, seine offenen Hände statt einer Antwort aus. Dann stellte Hagar die zu erwartenden Fragen, die ihr Mann, beherrscht und entschlossen, jede einzeln nacheinander knapp und leise beantwortete (»Hast du ein Verhältnis mit ihr?« – »Ja, wenn du es so nennen willst.« – »Wie lang schon?« – »Seit fast einem Jahr.« – »Fast ein Jahr?!« – »Was soll ich machen, ich habe mich verliebt, ich hatte das nicht unter Kontrolle«). Danach fing Hagar zu schreien an, und der große Synagogensaal, auf dessen Bänken sie saßen, hallte von den Vorwürfen und Beschimpfungen wider, die sie ihm an den Kopf schleuderte: Er hätte sie belogen und ausgenutzt, sein ganzes Leben sei von Opportunismus gelenkt, über die Unterlegenheitsgefühle der Angehörigen orientalischer Volksgruppen und ihre Minderwertigkeitskomplexe, wegen denen er sie geheiratet habe, bloß weil sie eine Aschkenasin war. Sie verfluchte das Viertel und diese Maklerin, von der alle wussten, was sie mit ihren Kunden trieb, verfluchte auch die Synagoge der Gemeinde, wegen der allein – »ein Bordell getarnt als Mitgliederclub« – all das passiert war. Auf keine andere Art hätte er sonst schließlich so viele »Amerikaner und Franzosen, weiße Europäer« kennen gelernt, und noch dazu solche, die ihm zuhörten, so wie er es gern hatte, denn er sei ja nur daran interessiert, die Aschkenasim für sich ein zunehmen, und ganz besonders natürlich die Aschkenasinnen, auch wenn es bloß irgendwelche ältlichen Nutten wie die eine da wären. Da hatte sich Natanael in seiner Bank erhoben und mit ausdruckslosem Gesicht in völlig ruhigem Ton zu ihr gesagt: »Hör zu, Hagar, seit Jahren höre ich mir diesen Unsinn von dir an und schweige. Du solltest eigentlich langsam wissen, dass mich nichts mehr anwidert als diese orientalische Erpressungsmasche und die Instrumentalisierung der ethnischen Diskriminierung, und man kann auch schlecht behaupten, dass ich ein gu tes Beispiel für einen gestörten Orientalen sei, du selbst hast gehört, wie ich mich über Zohra geärgert habe genau wegen solcher Dinge, haargenau deswegen. Und jetzt schiebst du sie mir in die Schuhe? Ich habe genug Defizite, die ich selber an mir sehe, da brauche ich wirklich keine Hilfestellung dazu. Was ich allerdings schon brauche ... egal, du würdest es ohnehin nicht verstehen, wenn es dir nach all diesen Jahren immer noch nicht in den Schädel geht.« Er verrückte gewaltsam die Bank und trat heraus. »Entschuldigen Sie mich«, stieß er hervor, an Michael und Zila gerichtet, die die ganzen letzten Minuten ihre Augen auf die schwere verschlossene Holztüre geheftet hatten, als käme von dort die Erlösung, bis Natanael Baschari sie öffnete, hinausging, und sie krachend hinter ihm ins Schloss fiel.
Notgedrungen hatten sie sich noch eine ganze Weile nach seinem Abgang die Schmähungen, Beschimpfungen und Ausfällig keiten Hagars wütender Gekränktheit anhören müssen. Als Michael jedoch zu Zila hin auf seine Uhr deutete und sich von seinem Sitz zu erheben versuchte, schaute Hagar ihn mit flehenden Augen an und sagte, in der momentan wiedereingekehrten Stille der Synagoge, mit einer Stimme, die all ihre Kraft eingebüßt hatte: »Was soll nun werden? Was mache ich jetzt, was meint er, dass ich machen soll? Er ist der einzige Mensch, der mir nahe steht ... ich habe keine anderen Freunde, ich habe nichts ... sogar diese Synagoge, ich zähle nicht für sie, und wäre nicht er, würden sie überhaupt nicht ... sie akzeptieren mich nur dank Natanael, und jetzt, was
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