Ochajon 05 - Denn die Seele ist in deiner Hand
einen Menschen zu kennen, und plötzlich stellt sich heraus, dass er dich überrascht, anscheinend hatte er den Kragen ganz schön voll von dir«, kommentierte Balilati, und seine Stimme hallte in Michaels Ohren wie Hiobs Klagen mit ihrem aufreizend selbstgerechten Ton, an den er sich noch vom Gymnasium her erinnerte, in Gestalt des Bibelkundelehrers, der verlangte, dass ganze Abschnitte auswendig gelernt wurden.
»Du sagst überhaupt nichts«, beschwerte sich Balilati, »ich kenn dich, das kommt garantiert von dem Schock. Du hast einen Schock, oder? So ist das, da denkt man von jemandem, dass er ein guter Junge ist und dich gern hat und dann ...«
Michael blickte ihn an und schwieg. Mit der Straße vor Augen, die wieder verödet und still dalag, sah er das Gesicht des Bibelkundelehrers, ein vollkommener Säkularist, der eines Tages begonnen hatte, eine Kipa zu tragen – es wurde gesagt, er litte an einem Kampftrauma –, und nach den Sommerferien mit Gebetsschal samt Schaufäden zurückgekehrt war, die unter seinem Hemd herauszipfelten. Mitten unterm Schuljahr hatte er dann die Schule verlassen und war in eine religiöse Siedlung bei Hebron gezogen, um in einer Jeschiva zu studieren. Michael sah das Gesicht und hörte die Stimme durch die Klasse hallen, noch vor der Kipa und den Schaufäden, die Worte, die er in vollkomme ner Übereinstimmung ständig zitierte – »kann etwa ein Mohr seine Haut wandeln oder ein Panther seine Flecken? So wenig könnt auch ihr Gutes tun, die ihr ans Böse gewöhnt seid« –, bis er sich in seinem Sitz aufrichtete, in Balilatis Mondgesicht blickte, der sich mit der Zunge über die Lippen fuhr und seine Fingergelenke überm Steuerrad laut knacken ließ. »Ich muss vorher mit ihm sprechen«, sagte Michael schließlich leise, »ich bin sicher, dass es eine Erklärung dafür gibt.«
»Ja«, stimmte Balilati zu, »da bin ich mir auch sicher. Nur dass ich genauso sicher bin, dass unsere Erklärungen verschieden ausfallen. Ich glaube, es ist Rache, und du ... ich habe keine Ahnung, wie du das in deinem Kopf auf die Reihe kriegst, aber denk vielleicht auch dran, dass in dem ganzen Bericht kein einziges schlechtes Wort über dich steht, nur Gutes hat er gesagt, vielleicht sollte man gar keine so große Sache daraus machen.«
»Es ist mir egal, was er zu ihr gesagt hat, die bloße Tatsache an sich, dass er mit ihr gesprochen hat, das ist hier das Grundsätzliche«, entgegnete Michael und rieb sich wieder mit beiden Händen das Gesicht.
»Aber es macht doch was aus, was er gesagt hat, oder?«, fragte Balilati und wischte mit dem Handrücken erneut über die Windschutzscheibe.
»Nein«, stellte Michael fest, »ich will nicht, dass Menschen, die mit mir zusammenarbeiten, mit Journalisten reden, verstehst du das nicht?«
Balilati verknotete seine Finger und sah ihn betreten an. Es war ihm anzusehen, dass er die Folgen seiner Tat bereute oder davon erschreckt war. »Ich sag ja gar nichts«, murmelte er, »aber manchmal, Menschen brauchen vielleicht manchmal ... man muss keine große Sache aus etwas machen, das ... man braucht nicht gleich so fanatisch sein.«
»Zuerst einmal werde ich mit ihm reden«, beharrte Michael, »ich muss seine Version hören.«
»Red nur, red mit ihm«, seufzte Balilati, »klar sollst du reden, reden muss man, nur ...« Das Funkgerät ging los, und das Mobiltelefon klingelte, »was hast du davon?«, schickte Balilati noch s chnell hinterher, bevor er nach dem Handy griff. Er lauschte einen Moment und sagte dann: »Alle Achtung, red selber mit ihm, er ist hier neben mir im Auto, und hör auf, über Funk zu pfeifen, willst du vielleicht, dass noch mehr Journalisten in der Sache mit drin sind? Ich hab dich nicht mal auf Lautsprecher gestellt, nimm mal«, damit drückte er Michael das Telefon in die Hand, »sie hat Neuigkeiten, es ist Zila«, und den Namen spuckte Balilati so giftig aus, als sei sie schuld an den Untaten ihres Mannes.
»Was ist?«, fragte Michael mühsam in das kleine Gerät, »was ist los?«
»Zwei Dinge«, sprudelte Zila heraus, »erstens – es gibt Anzeichen, dass das Mädchen aufwacht. Nicht völlig, aber sie bewegt die Beine und seufzt im Schlaf, und Einat meldet, der Arzt hat zu ihr gesagt, dass es sich nur noch um ein paar Stunden handeln kann, bis sie ...«
»Verstanden«, unterbrach sie Michael, »und das zweite?«
»Herr Benesch wartet hier auf dich. Der Vater.«
»Jetzt?!«, sagte Michael bestürzt, »um fünf Uhr in der
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