Ochajon 05 - Denn die Seele ist in deiner Hand
sie völlig ein, ihr ist furchtbar schlecht. Wieder möchte sie sich erbrechen. Danach nur Finsternis.
Für einen Moment schlug sie die Augen auf und starrte wie der auf den schwachen Lichtschein vom Gang. Der Stuhl neben der Tür war leer. Niemand saß auf dem Stuhl, leer. Jeder konnte hereinkommen. Ihre Augen fielen zu, und als sie sie wieder öffnete, nur für einen Moment, blinzelnd in dem Schein des Lichts, hatten sich die Gerüche der Nacht bereits mit einem anderen Geruch vermengt, vertraut und zart, von Blumen, Rosen vielleicht. Ein Geruch, der sie, nachdem sie ihre Augen gleich wieder geschlossen und sich konzentriert hatte, an die weiße Flasche mit dem grauen Schiff darauf erinnerte, die auf dem Regal in der Dusche bei Jigal stand. Einmal hatte sie sie geöffnet und ein paar Tropfen versprüht, als sei sein Rasierwasser ein Parfüm. Auch ein Geruch nach Schweiß und Reinigungsmittel kam ihrem Gesicht nun ganz nah, ein schwerer Atemdunst, an dem sie erkannte, dass es ihre Mutter war, die sich über sie beugte. Und dann kamen die Stimmen – die Stimme von Mama, die ganz dicht bei ihr flüsterte: »Denn in deiner Hand, Herr, ist die Seele von allem, was lebt, und der Lebensodem aller Menschen, in deiner Hand steht die Macht und die Kraft, jedermann groß und stark zu machen und zu heilen«, genau wie sie es an Papas Bett immer geflüstert hatte, als ob auch sie, Nesja, ster ben würde, und daneben eine andere Stimme, jung und weich, die Stimme einer Frau: »Doktor, ich sitze hier schon seit ein paar Tagen, es gibt eine Veränderung, ich sage das nicht bloß ...«, und eine neue, gänzlich fremde Stimme, deren Besitzer nahe neben ihr stand, vielleicht auch derjenige war, der ihren Arm berührte – die Berührung tat weh, als wären dort Nadeln und jemand drückte darauf – und sagte: »Entschuldigen Sie einen Augen blick, Frau Chajun«, und etwas, vielleicht ein Finger, doch ja, ein Finger, presste sich schmerzhaft auf ihr Handgelenk (aber Nesja gab keinen Laut von sich, nicht einmal einen Seufzer), und die Stimme sagte: »Es ist etwas in Bewegung, es zuckt.« Er schob ihre Lider hoch, und sie bemühte sich, nicht zu atmen. Sie schnappte »Zuckungen« und »Empfindungen« auf und »das kann noch ein paar Tage dauern«, und dann rief eine tiefe Stimme über Lautsprecher: »Dr. Sela, Dr. Sela, in die Innere bitte«, jemand rannte hinaus, und im Zimmer war nun auch Peters Stimme zu hören, ganz nah am Bett. Er setzte sich auf ihr Bett. Was machte er? Er sang ihr vor, sie hatte gar nicht gewusst, dass er singen konnte. Er sang ihr ganz leise vor, in ihr Ohr hinein, was kitzelte. Aber sie rührte sich trotzdem nicht, hielt nur den Atem an. Auf Englisch sang er ihr vor, ein Lied, das sie nicht kannte, aber die Worte »my love«, die wusste sie schon. Und wieder die junge Stimme, die der Frau, die sagte: »Ihre Lider be wegen sich, schaut mal, sie flattern.« Nesja presste ihre Lider fest aufeinander. Sie wollte die Augen nicht aufmachen. Wenn sie die Augen aufmachen würde, würden sie sie fragen. Sie war sicher, dass man ihre Sachen gefunden hatte. Sie würden sie nach dem Karton fragen, und vielleicht hatten sie sogar die graue Handtasche gefunden. Sie war schließlich schon einmal im Finstern aufgewacht und hatte Schimmel und Moder gerochen, und Pipi, und Brechreiz verspürt. Sie wollte sich übergeben, aber es gelang ihr nicht. Doch da war sie auf einem harten, kalten Bo den gelegen, und da war ein Geruch nach Mauer und Dunkel heit gewesen, aber jetzt war Morgen. Sie spürte das Licht hinter ihren geschlossenen Lidern und hörte Peters Stimme, die ihr vorsang, und Mamas heisere Stimme, »Denn in deiner Hand, Herr, ist die Seele von allem...«, und die fremde junge Frauenstimme, die sagte: »Ich hab’s gesehen, ich hab’s wirklich gesehen, so eine Art Erschauern, wie ein Zucken.«
Ihr Körper gehorchte ihr nicht. Ihr Körper rebellierte. Er wollte, dass sie die Augen aufmachte ihrem Beschluss zum Trotz, trotz all dem, was danach folgen würde, die ganzen Fragen und das Reden. Ihre Lider wollten sich öffnen, sie kämpfte dagegen an und spürte, dass auch etwas in ihren Füßen unten zitterte, an den Fußsohlen kitzelte. Aber sie dachte an den Karton und den Schlag auf ihren Hinterkopf, an die Hände um ihren Hals und auf ihrem Mund, und sie empfand wieder das würgende Ersticken, die Finsternis und den Modergeruch, den Brechreiz und den Geruch nach Parfüm, die starken Hände und den kalten Boden. Rosi
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