Ochajon 05 - Denn die Seele ist in deiner Hand
Spiegel schaute, sich kämmte oder einfach nur im Zimmer umherging und Lieder auf Englisch vor sich hin sang. Ihre Stimme war süß, tief und warm, und Nesja dachte, dass sie im ganzen Land hätte berühmt sein können wie Zahava Ben oder so eine, und auch im Fernsehen auftreten. Wäre Nesja so schön wie die vollkommene Zohra gewesen, hätte auch sie vor dem Spiegel gestanden, sich selbst angeschaut und gesungen. Aber Nesja hatte Speckwülste, Pickel und Haare wie Drahtwolle (sagten die Kinder), und ihre Stimme brachte nur falsche Töne hervor. Zohra wusste nicht, dass Nesja sie sah, sie wusste überhaupt nicht, dass sie eine fanatische kleine Verehrerin hatte, die sogar die Haare sammelte, die sie wegwarf. Ja, und sie ihrer kleinen Puppe anklebte, die ein weißes Kleid wie das von Zohra anhatte und auch sang, wenn man auf ihren Bauch drückte und Nadeln in die Stelle ihres Herzens bohrte.
Wenn sie es nur schaffen würde, nicht auf die Linien zu treten, besonders jetzt, am Abend von Sukkot, vielleicht würde sie dann endlich anfangen, dünner zu werden, und vielleicht würden ihr sogar kleine Brüste wachsen, solche, die in den violetten Büstenhalter mit den schwarzen Blumen passten. Und darüber, statt dem weiten blauen Trainingsanzug, den sie von ihrer Kusine Sarit geerbt hatte, würde sie dann ein knappes, bauchfreies T-Shirt anziehen sowie eng anliegende Jeans, unten ausgestellt, mit Taschen und Stickerei auf der Seite. Ein solches T-Shirt und solche Jeans warteten schon in dem Versteck auf sie, und auch rote Leggins, die ihre Mutter einmal gesehen und gefragt hatte: »Woher hast du die?« »Ich hab sie mir von Sarit für die Turnstunde aus geliehen«, hatte Nesja damals geantwortet, und ihre Mutter hatte den Mund verzogen und gesagt: »Für so was braucht man eine Figur, meinst du nicht? Den ganzen Tag essen und dann Leg gings, das passt nicht zusammen.« Nesja hatte sich innerlich gekrümmt und geschwiegen, und nachdem sie sie zu einem winzigen Päckchen gefaltet hatte, so wie sie es gemacht hatte, als sie sie im Kaufhaus fand, legte sie sie in den Karton zurück, den sie im Schutzraum versteckte. Dort, wo ihre Mutter niemals hin kam, bewahrte sie auch die Sachen ihres Vater auf – nicht nur Kleider, die nach Naphtalin rochen, sondern auch sein Inhaliergerät, den Dampfapparat und Rückenstützgürtel.
Abend für Abend, vor dem Spaziergang mit der Hündin, ging sie in den Schutzraum hinunter, um einen Blick auf ihr Versteck zu werfen: erstens, um zu überprüfen, dass die Sachen nicht kaputt waren, und zweitens, um sich zu vergewissern, dass niemand etwas weggenommen hatte. Die Taschenlampe, die sie im Schutz raum benützte, hatte sie in dem Laden »Für den Wanderer« gefunden. Auch sie hatte sie damals unter ihrem Trainingsanzug versteckt, da hatte sie schon gewusst, dass diese kleinen Sachen am Ausgang nicht piepsten. Abend für Abend kontrollierte sie ihre Schätze: betastete die Kette, die sie aus der Boutique in der Emek Refa’im mitgenommen hatte, die Unterhosen aus dem »Magazin« im Einkaufscenter, den violetten Büstenhalter und das bauchfreie T-Shirt, die Leggings und die engen Jeans mit dem weiten Schlag. Abend für Abend öffnete sie vorsichtig das kleine herzförmige Fläschchen und sog den süßen Parfümduft ein, berührte die Schachtel Filzstifte, das Federmäppchen und die beiden Notizbücher, die sie hatte mitgehen lassen, um die Beobachtungen ihrer Feldstudien hineinzuschreiben.
Dreimal die Woche kam ihre Mutter spät nach Hause, von der Krankenkasse, wo sie erst gegen Abend zu putzen anfing, direkt anschließend an Frau Rosensteins Haus. An diesen Tagen ließ sie ihr in der Früh Essen zurück und erklärte ihr jedes Mal wieder von vorn, wie man den Gasherd anzündete, als sei sie ein kleines Kind und nicht ein zehneinvierteljähriges Mädchen, das schon über Periode, Schwangerschaft und diese ganzen Dinge aus dem Sexualkundeunterricht Bescheid wusste (schließlich hatte sogar die Schulschwester zu allen Mädchen gesagt, dass sie jetzt schon richtige junge Mädchen seien). An solchen Tagen wartete Nesja lieber auf ihre Mutter, statt allein zu essen, denn während dieser Stunden konnte sie Sachen aus ihrer Schatztruhe im Schutzraum nach oben bringen.
In der letzten Zeit hatte sie aufgehört, verschiedenste Dinge anzuhäufen: Seit sie im Fernsehen gesehen hatte, wie sie in einem riesigen Supermarkt in Amerika einen Jungen ertappt hatten, der eine Schirmkappe mit einem
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