Ochajon 05 - Denn die Seele ist in deiner Hand
sie alles auf einen Schlag über Nacht im Stich lassen mussten.
Auch Bücher gab es im Haus von Frau Rosenstein, eine Menge Bücher in einem großen Schrank mit Glastüren. Manchmal schaute sich Nesja die Bücher an, vor allem die mit den Bildern, und aus einem davon hatte sie auch die Idee mit der Puppe her. Frau Rosenstein, die ihr das Buch zeigte, erklärte ihr jedes einzelne Bild darin: vom Stammeshäuptling und dem Zauberer, und auch von diesen Puppen, die die Neger machten, wenn sie jemandem etwas Schlechtes antun wollten. Andere Bücher, die sie lesen und verstehen konnte – wie »Ella Kari, das Mädchen aus Lappland« oder »Nuriko San, das Mädchen aus Japan« –, hatte ihr Frau Rosenstein geschenkt, als sie in der dritten Klasse war, und damals zu ihr gesagt: »Die haben meiner Tochter gehört, aber sie wird sie nicht mehr brauchen.« (Die Tochter von Frau Rosenstein lebte in Amerika, und wenn sie mit ihren Kindern zu Besuch kam, schlief sie wieder in ihrem alten Zimmer, und in der Früh sahen ihre Löckchen auf dem Kissen so ganz anders aus als das glatte Haar ihrer Mutter.)
Rosi hatte Nesja von Frau Rosenstein bekommen, als deren Hündin geworfen hatte. »Schau, sie wird eine kleine Baroness Rosenstein sein«, hatte sie damals zu Nesja gesagt, und sie hatte ohne nachzudenken hervorgestoßen: »Rosi.« Frau Rosenstein hatte gelacht: »Siehst du, du hast ihr schon einen schönen Namen gegeben, so entstehen Beziehungen.« Sie sah sie immer mit gütigen Augen an, und wenn sie mit zur Seite gewandtem Kopf lächelte, sah man, dass sie nicht dachte, dass Nesja dick war oder schlecht roch oder keine Aussicht darauf hatte, sich zu ändern.
»Was mach ich mit einem Hund? Noch ein Maul zu stopfen?«, hatte ihre Mutter den ganzen Nachhauseweg gejammert, aber Nesja war glücklich. Und Rosi sah überhaupt nicht so aus, als hätte sie Heimweh, als hätte auch sie gehört, wie Frau Rosenstein ihrer Mutter in der Küche erklärte, dass es gut sei für zwei Frauen, die allein lebten, einen Hund im Haus zu haben, und »besonders für das Mädchen, da es ein wenig einsam ist, für die Zeit, wenn Sie in der Arbeit sind«.
»Aschkenasim«, schnaubte ihre Mutter auf dem Heimweg, »sie halten sich Hunde, bei uns gibt es keine Tiere, bei unseren Leuten ist das nicht üblich.« Und zu Frau Rosenstein hatte sie drauf gesagt: »Das braucht es aber wirklich nicht, außerdem habe ich Angst vor Hunden, und sie machen auch alles dreckig und schleppen Krankheiten ein.«
Doch die Hündin war so klein, dass sogar ihre Mutter keine Angst vor ihr hatte. Nur als sie hörte, dass sie noch nicht stubenrein war, sagte sie zu Nesja: »Bloß wenn du sauber machst.« Und tatsächlich wischte ganz allein Nesja hinter der Hündin auf, schlug ihr mit dem Ende eines Handtuchs auf die Nase, falls nötig, und gab ihr als Belohnung von ihren Fleischbällchen ab, wenn sie brav war, und sie passte auch auf, dass sie keine Schuhe und Strümpfe anknabberte, wovor Frau Rosenstein sie gewarnt hatte, machte ihr ein Lager neben ihrem Bett und stand in den ersten Nächten immer auf, um nachzuschauen, ob sie noch atmete. Langsam und allmählich wurde die Hündin größer, man konnte ihr schon ein Halsband anlegen und ihr eine Schüssel mit Trockenfutter füllen, und als sie endgültig ausgewachsen war, sah sie wirklich genau wie die Hündin von Frau Rosenstein aus, ob wohl sie kein reinrassiger Pudel war. Wenn Nesja sie anfasste und sich nicht gleich die Hände wusch, vor allem, wenn sie sie um armte oder küsste, schrie ihre Mutter sofort auf: »Komm mir jetzt bloß nicht in die Nähe mit ihren ganzen Bazillen, widerlich!« Doch Nesja hörte nicht auf, sie zu küssen und an sich zu drücken. Sie liebte Rosi einfach, und jeden Abend vor dem Einschlafen redete sie mit ihr, und einmal zeigte sie ihr sogar ihre Schatzkiste.
Jetzt ging Nesja mit dem rechten Fuß auf der Gehsteigkante und den linken schleifte sie auf der Straße hinterher, als habe sie ein starkes Hinken befallen. Es war gar nicht so einfach, auf dem Gehsteigrand zu bleiben, denn Rosi zerrte mit aller Gewalt immer zu den Büschen hin. So bewegten sich die beiden vorwärts und passierten die Synagoge in der Schimschonstraße, wo sie gerade noch sah, wie Herr Avital dort in seinem neuen Auto wegfuhr, von dem Jasmin stolz in der ganzen Klasse herumerzählt hatte, dass das der erste Rover sei, den jemand in Jerusalem gekauft habe (aber ihre große Schwester, die in einem Heim für
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