Ochajon 05 - Denn die Seele ist in deiner Hand
Märchen, eine andere mit anderen Augen, anderen Haa ren und einem anderen Körper. Ihre Augen – die von der, die sich in ihr verbarg – waren ganz grün oder blau wie der Himmel, ihr Haar war vollkommen glatt und ihr Körper klein und süß, mit schmalen Hüften, um die man einen breiten roten Gürtel tragen konnte wie der von Zohra. Nein, nicht wie ihrer. Denn Zohras Gürtel, den würde sie ihr umlegen, mit aller Kraft die Schnalle ein Loch nach dem anderen enger ziehen, bis Zohra fast so tot wäre wie in Schneewittchen. Und dann, vielleicht, erst wenn sie hübsch um Verzeihung bitten würde, dann würde Nesja sie retten, wie die Zwerge das bei Schneewittchen tun. Aber vorher würde sie ihr eine Lektion erteilen.
Das Blaulicht eines zweiten Streifenwagens blinkte vor ihr, und Nesja, die begriff, dass es besser war, sich von den Polizisten zu entfernen, begann, die Hündin in die entgegengesetzte Richtung zu ziehen. Sie ruckte heftig an der Leine, doch ausgerechnet jetzt versteifte sich Rosi darauf, eine schwarze Katze verfolgen zu wollen, die ihren Weg kreuzte. Als der Polizist sie anblickte, tat sie, als sähe sie ihn nicht, und rannte der Hündin zum Zaun des nächsten Hauses in der Rakevetstraße hinterher.
Nesja wollte weiter, doch an der Ecke Ja’ir-/Rakevetstraße beschloss sie, in Richtung der Schienen hinunterzugehen. Nahe der Schranke zog Rosi wieder mit aller Kraft, schnüffelnd und hechelnd, und Nesja hinterher, bis sie sie neben einem der Häuser mit einem Ruck bremste, um sich ihren aufgegangenen Schnürsenkel zuzubinden. Mit ihrem ganzen Gewicht stieg sie auf die straff gespannte Lederleine, während sie sich den Schuh wieder zuband, und da, vor ihr, auf der anderen Seite des kleinen Tores, nicht weit von den Angeln entfernt, sah sie die Tasche.
Es war eine Tasche wie aus einem Traum. Eine solche Tasche hatte sie noch nie gesehen, bei niemandem und in keinem Laden im Einkaufszentrum oder wo auch immer. Einmal hatte sie schon eine kleine festliche Tasche gefunden, aus Perlenschnüren, die direkt an einem Stand auf dem Markt, der einmal im Monat stattfand, auf sie gewartet hatte. Aber das da, so weich und grau und fein, schien ihr wie eine Tasche, die nicht von hier war. Aus dem Ausland. Es war eine Tasche mit Klasse, oder wie die Erwachsenen sagten, »elegant«. Sie berührte sie durch die Gitterstäbe hindurch mit ihren Fingern und wusste, das war echtes Leder, vielleicht Ziege oder Reh, und sie dachte an die Braut von Joram Benesch mit ihren fünf Koffern und der gelben Tasche und auch an ihr weißes Haar, das ihre Mutter platin nannte. (»Zu viel Wasserstoff«, stellte sie fest; »sie will die Haarwurzeln verstecken«, sagte Frau Josselson und zog geräuschvoll die Nase hoch, »jeder nach seinem Geschmack, bei uns lieben sie blond.«) Die Tasche war nicht zu groß und nicht zu klein, man konnte sie an ihrer dünnen Goldkette um die Schulter hängen, und man konnte sie unterm Arm halten, wie es vielleicht Zohra getan hätte.
Sie streckte eine lang gedehnte Hand durch die Gitterstäbe des Tores, bekam die Kette zu fassen und wusste, diese Tasche war der Anfang des Wunders. Sie zog sie vorsichtig unterm Tor durch, presste sie an sich und spähte zu den Fenstern des Hauses, danach rechts, links und geradeaus – ein Auto fuhr auf der Straße vorbei, zwei Pärchen gingen gegenüber, und eine dünne Frau blieb stehen, setzte ihre Plastiktüten ab und wischte sich mit einem Taschentuch über die Stirn. Ein hoch gewachsener Junge dribbelte einen Ball auf dem Gehsteig und hob keinen Blick. Der Polizist – der sie mehr als alle anderen beunruhigte – schaute nicht in ihre Richtung, als sie die Goldkette in die Tasche hineinschob, sie zu sammendrückte und unter den Gummi ihrer Trainingshose stopfte. Nachher, wenn sie allein wäre, würde sie jedes Fach, die ganze Tasche untersuchen und all die Schätze darin finden. Einst weilen spürte sie die angenehme Wärme an ihrem Körper, die weiche Berührung von echtem Leder, Kalb oder Ziege oder Reh, vielleicht sogar Wild, das noch teurer und weicher war. Bei Frau Rosenstein hatte sie einmal eine ähnliche Tasche gesehen, aber größer und in Blau, und als sie sie befühlte, hatte ihre Mutter erschrocken geschimpft: »Fass bloß nichts an, du hast schmutzige Hände, es bleiben Spuren zurück. Da würde ein ganzer Monatslohn nicht ausreichen, um so eine neu zu kaufen.« Und Nesja schreckte zurück, nicht wegen dem Schmutzigmachen, sondern weil sie begriff,
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