Ochajon 05 - Denn die Seele ist in deiner Hand
erwiderte Rosenstein, »ich habe mit ihr am Telefon gesprochen, einige Male im Laufe des Tages.« »Hat sie wie immer geklungen?«
»Absolut normal, fröhlich und voller Leben, wie immer.«
»Und sie hat wie gewöhnlich gearbeitet? Den ganzen Tag?«
»Sogar länger, bis fünf, denn meine Sekretärin war für zwei Tage in Urlaub gegangen. Und als sie zurückkam, konnte Zohra zwei Tage Urlaub nehmen. Daher haben wir uns überhaupt keine Gedanken gemacht, wir wussten ja nicht einmal, dass sie verschwunden war.«
»Hat sie normalerweise weniger Stunden gearbeitet?«
»Offiziell bis drei, aber sie war häufig damit einverstanden, zusätzliche Stunden zu bleiben, wenn Bedarf bestand.«
»Was genau hat sie gemacht?«
»Alles, worum man sie bat. Zohra ist, war, ein sehr intelligentes Mädchen. Ihrer offiziellen Funktion nach war sie eine niedrige Sekretärin, das heißt, Anrufe entgegennehmen, Ablage, manchmal Material zusammenstellen, aber wegen ihres Verstands, weil sie Köpfchen hatte, konnte man ihr ernsthafte Arbeiten geben – eine Akte für eine Besprechung durchgehen, zum Beispiel, kontrollieren, ob sie ordnungsgemäß vorbereitet war, den Anwärtern helfen, alle möglichen Sachen. Auch ihr Englisch war gut.«
»Wer sind Ihre Anwärter?«
»Es sind zwei«, der Rechtsanwalt zögerte, »wir haben erwogen, noch einen zu nehmen, aber das ist noch nicht ...«
»Wer sind die zwei?«
»Sie können sie vorladen«, murmelte Rosenstein.
»Wir werden sie vorladen, das werden wir ganz sicher, aber sind es Männer? Frauen?«
»Ein junger Mann, hoch begabt, und eine etwas ältere Frau, noch begabter.«
»Und hatten sie engen Kontakt?«
»Was? Mit Zohra?«
»Zum Beispiel.«
»Ich weiß es wirklich nicht«, der Anwalt fuhr sich unbehag lich durch sein schütteres Haar, »ich habe keine Ahnung. Die Atmosphäre war gut, bei uns ... ich habe immer sehr darauf geachtet, dass es ein familiäres Klima ist, man bringt Kuchen mit, wenn jemand Geburtstag hat, meine persönliche Sekretärin, Frieda, die bereits seit dreißig Jahren bei mir arbeitet, vielleicht weiß sie mehr ... ich kann sie gern jetzt anrufen, wenn Sie ...«
»Haben Sie irgendeine Veränderung an ihr bemerkt in den letzten Monaten?«, bremste ihn Michael.
»Sie meinen wegen der Schwangerschaft?« Rosensteins Augen verengten sich.
»Das und allgemein.«
»Ehrlich nicht«, antwortete er Michael schließlich, wobei er vor Bemühen sein Gesicht verzerrte. »Ich sehe ihr Gesicht, im Geiste sozusagen, und ich höre ihre Stimme, und alles klingt gleich und wirkt gleich. Aber Menschen ... Sie wissen, wie das ist, wenn jemand etwas verbergen will – dann kann er das, und niemand wird es merken, und ganz besonders ein junges Mädchen, das das will. Verbergen, meine ich. Und noch dazu eine, die es ge wöhnt ist aufzutreten.«
»Haben Sie sie singen gehört?«
»Habe ich«, seufzte der Anwalt, »ich verstehe ein wenig davon. Sie besaß einen außergewöhnlichen Alt, mit einer raren Nuancierung, ich denke ... ich dachte, sie hätte eine große Sängerin sein können, auch von Klassik, aber sie hatte nicht das Zeug dazu. Das ist schon in der Erziehung angelegt. Ein paarmal ha ben wir, meine Frau und ich, sie in die Oper mitgenommen, und sie hat es sehr genossen. Wenn nicht ... passiert wäre, was passiert ist, hätte sie eine Zukunft haben können. Sie wollte Jazz singen. Sie hatte diese fixe Idee, wie diese eine englische Sängerin, nein, nicht englische, von ... von den westindischen Inseln, die in England lebt, Kleo Lane, haben Sie von ihr gehört?«
»Ich dachte, sie war an jemenitischem Gesang interessiert«, bemerkte Michael verwundert.
Rosenstein kräuselte skeptisch die Lippen. »Ich habe davon gehört, aber es hat mich nicht überzeugt, das war nur zum Lebensunterhalt«, winkte er ab, »Zohra hat in der letzten Zeit ein wenig dieses ganze ethnische Gerede nachgeplappert, als ob man ihnen ein Unrecht zugefügt hätte oder so etwas, aber das wäre ihr schon wieder vergangen, mit der Zeit wäre das vergangen.«
»Wie erklären Sie sich, was passiert ist?« Ein Motorengeräusch klang vom Ende der Straße her auf, und Michael erblickte einen Wagen, der sich dem Haus näherte.
»Was, den ... den Mord?«
Michael schwieg.
»Ich habe keine Ahnung«, sagte Rosenstein, »glauben Sie mir, da meint man, einen Menschen zu kennen, etwas über sein Leben zu wissen ... Ich wusste zum Beispiel von ihrer Involviertheit bezüglich jemenitischer Folklore und« – er
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