Ochajon 05 - Denn die Seele ist in deiner Hand
war die Straße entlang zur Bushaltestelle gerannt, hatte das Aneinanderreiben ihrer Oberschenkel igno riert und später die Blasen, die sich dort gebildet hatten, vor ihrer Mutter verborgen. Nicht einen Moment hatte sie zurückge schaut. Jetzt hatte sie vor, den goldenen Filzstift herauszuholen und die Blätter, die Peter heute Morgen für sie zurechtgeschnitten hatte, anzumalen, um sie auf die Decken zu kleben, die das Gestell der Hütte verhängten. Das ganze Jahr stand das nackte Gerippe herum, und nur zum Laubhüttenfest wurde es mit alten Wolldecken und längst vergilbten Laken verhüllt.
Und auch in die graue Ledertasche wollte sie noch einmal hineinschauen. Nesja war nicht dumm: Wenn Zohra ermordet worden war, würden sie schließlich nach der Tasche suchen, und sogar bis in den Schutzraum könnten sie kommen. Man musste also ein neues Versteck für die ganzen Schätze, vor allem die graue Handtasche finden. Sie wusste, dass sie sie den Polizisten geben müsste oder wenigstens dem großen Mann – er hatte keine Uniform getragen, aber er war auch ein Polizist, der Vorgesetzte von allen –, der eigens mit ihr geredet hatte, mit ihr vor allen ande ren, und sie gebeten hatte, ihm zu helfen. Komisch, dass ein so wichtiger Mann, den alle um Erlaubnis baten, trotzdem traurige Augen hatte und fast nicht lächelte; wie einer aus einem Film wirkte er auf sie, und so hatte sie sich in dem Moment auch gefühlt, als er zu ihr sagte, sie sollte ihn anrufen, wenn ihr etwas einfiele. Es war sein Verdienst gewesen, dass sie sich da in ihren eigenen Augen schlank und rank wie eine Filmschauspielerin gesehen hatte, so eine wie aus »Beverley Hills«, doch sich von der Tasche trennen, das konnte sie nicht. Sie war einfach zu schön, und eine solche Tasche würde sie nie mehr kriegen, jedenfalls nicht, bis der Zauber funktionierte. Einmal hatte sie im Fernsehen gesehen, wie Diebe das Geld herausnahmen und die Börse wegwarfen; vielleicht konnte man es ja auch umgekehrt machen? Die Börse nehmen und das andere wegwerfen – nein, nicht wegwerfen, zurückgeben –, aber auch auf das Geld wollte sie nicht verzichten. Die ganzen Scheine bewahrte sie in einer Plastiktüte auf, die sie in ihrer Unterhose trug, denn nie mehr im Leben würde sie so viel Geld haben. Und auch den kleinen Lippenstift wollte sie nicht missen ebenso wenig wie das Parfümfläschchen, die Wimperntusche und die ganzen anderen Sachen, die jetzt ihr gehörten. Und was würde es ihnen schon helfen, wenn sie es zurückgäbe? Was sie brauchten, waren die Papiere, die Zettel und den kleinen Notizkalender, den Ausweis und die Plastikkarten, mit denen sie ohnehin nichts anfangen konnte, so dass es reichte, wenn sie das alles zurückgab, nur musste sie es schnell machen, bevor sie beim Suchen in den Schutzraum kamen. Aber wie konnte sie es zurückgeben – sie würden sie doch fragen, woher sie diese Dinge hätte, und vielleicht noch denken, sie selbst hätte sie gestohlen, was sie diesmal wirklich nicht getan hatte, sondern lediglich gefunden. Wie sollte sie dem großen, traurigen Mann die Papiere geben, ohne dass er wüsste, dass sie von ihr kamen? Eine Hitzewelle schoss ihr in den Bauch, als sie daran dachte. Und diese beängstigenden Zettel, die sie dort gefunden hatte mit den ganzen Wörtern, die sie nicht verstand, was würden sie mit ihnen machen? Wieder spürte sie ein Flattern im Bauch. Das konnte einstweilen warten, vielleicht bis nach dem Essen, wenn sie mit Rosi einen kurzen Abendspaziergang machen würde, be schloss sie, als sie die schwere Stahltür zum Schutzraum aufstieß. Aber wenn sie hierher kamen, sagte sie sich stumm, und ernst haft suchten, dann kriegte sie sowieso echten Ärger.
Noch bevor sie in die dichte Dunkelheit im Inneren eintrat, hörte sie ihre Wohnungstür aufgehen und die Stimme ihrer Mutter, laut und rau: »Nesja, Nesja, wo bist du?« Etwas an diesem Ruf, auf den sie so überhaupt nicht gefasst gewesen war, brachte sie dazu, die Tür des Schutzraums schleunigst wieder zuzuziehen, im Laufschritt die Stufen hinaufzustolpern, sich atemlos vor ihre Mutter zu stellen und zu sagen: »Ich bin nur für einen Mo ment ...« Doch ihre Mutter wollte bloß, dass sie sich duschte, damit sie schon die Feiertagskleider anhätte, wenn Jigal und Peter einträfen. Nachher, tröstete sich Nesja, nach dem Essen und nachdem Mama eingeschlafen wäre, könnte sie sich wieder in den Schutzraum stehlen und sich vergewissern, dass niemand die graue
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