October Daye - McGuire, S: October Daye
Gras.«
»Was?«
»Vergiss es.« Ich schüttelte den Kopf. »Also haben sie wohl die Wahrheit gesagt, was die Fluktuation hier betrifft. Anscheinend haben sie lange keine Mitarbeiter eingebüßt, bis diese Geschichte anfing.«
»Und was bedeutet das für uns?«
»Für ›uns‹ bedeutet das gar nichts, Quentin. Du verschwindest, sobald du abgeholt wirst.«
»Und wenn ich nicht gehe?« Mit verbissener Miene verschränkte er die Arme vor der Brust.
»Das sind Sylvesters Befehle, Kleiner. Du wirst gehen.«
»Warum bist du so scharf darauf, mich loszuwerden? Ich will helfen. Ich wil l … «
Ich ergriff den Kragen meiner Bluse und zog ihn beiseite, um die Narbe an meiner linken Schulter freizulegen. Quentin verstummte und starrte mit großen Augen darauf. Ich hielt den Kragen lange genug fest, dass er sich die zackige rote Narbe genau ansehen konnte, dann zupfte ich ihn wieder zurecht und schaute Quentin ernst an.
»Das wurde mit Eisen verursacht.« In seinen geweiteten Augen stand Angst.
»Wie schön, dass man dir beigebracht hat, wie eine Eisenverletzung aussieht.«
»Wie hast d u … «
»Ich habe überlebt, weil ich großes Glück hatte und jemand bereit war, eine Menge dafür zu bezahlen, dass ich noch eine Weile am Leben bleibe. Die meisten Leute haben nicht so viel Glück.«
Er schluckte und stand auf. »Ich füttere die Seepferdchen.«
»Gute Idee«, meinte ich und griff nach dem Stapel der Ordner. Ich wollte ihm keine Albträume mache n – er gab sich mehr Mühe, das Richtige zu tun, als die meisten doppelt so alten Reinblütle r – , aber er musste begreifen, dass dies kein Spiel war. Es war todernst, und er würde heimfahren.
Das Seepferdchenfutter stand auf einem Bord unter dem Aquarium. Quentin öffnete es und schüttelte getrocknete Seetang- und Gerstenflocken ins Wasser. Die winzigen Pferdchen scharten sich um das Futter, vergaßen ihre Wachsamkeit und pflügten fröhlich speisend durchs Aquarium. Ich lächelte matt und schlug den ersten Ordner auf.
Bei ALH mochte man Daten und Aufzeichnungen, das war zu merken. Vom Beschäftigungsverlauf über die Ernährung bis zur Abstammung war alles sorgsam erfasst, als wäre es wichtig, Porträts der Mitarbeiter auf Papier festzuhalten. Auch wenn es uns bei den Ermittlungen half, konnte ich mir nicht vorstellen, weshalb sich jemand all die Mühe gemacht hatte.
Die erste Seite von Colins Akte enthielt eine Aufstellung von Familienangehörigen. Unwillkürlich überlegte ich, wer ihnen würde mitteilen müssen, dass er verstorben war. Angewidert warf ich den Ordner auf den Schreibtisch und schob ihn von mir. »Das hilft uns auch nicht weiter.«
Quentin schaute vom Füttern der Seepferdchen auf. »Was meinst du?«
»Sie waren einfach normal.« Ich deutete auf den Ordner. »Alle waren Reinblütler im Alter von unter dreihundert Jahren, alle haben irgendwann mal unter Menschen gelebt, ohne die Verbindung zu den Sommerlanden abzubreche n – nichts Ungewöhnliches. Barbara stammte hier aus der Gegend, Yui aus Oregon, hier wäre also ein Westküstenmuster erkennba r – nur kam Colin aus Neufundland, und Peters letzte eingetragene Adresse war in Indiana.«
»Was also ist die Verbindung zwischen ihnen?«, fragte Quentin und stellte das Seepferdchenfutter auf das Bord zurück, wo er es gefunden hatte.
Offensichtlich erwartete er einen Geistesblitz à la Sherlock Holmes, und es widerstrebte mir zutiefst, ihn zu enttäuschen. Leider hatte ich keine Wahl. »Nur ALH .« Das bereitete mir Kopfzerbrechen. Sofern die Handlungen unseres Mörders nicht auf einem Faktor beruhten, den ich noch nicht erkennen konnte, hatten wir es mit jemandem zu tun, dessen einziges Motiv aus dem ›hier‹ bestand. Das verhieß nichts Gutes, zumal es ein starkes Indiz dafür war, dass wir unter Umständen nach einem Verrückten suchten.
Wahnsinn ist gefährlich. Alle Fae, die in der Welt der Sterblichen leben, sind zumindest ein bisschen verrückt, das ist eine natürliche Konsequenz dessen, was wir sind. Wir wollen uns partout davon überzeugen, dass wir in einer Welt klarkommen, die von Leuten beherrscht wird, deren Logik völlig anders als die unsere ist. Wenn wir es gut genug machen, behalten wir recht, und es klappt. Das Problem ist, dass die Lügen irgendwann nicht mehr funktionieren, und in der Regel ist es dann zu spät, um noch abzuhauen.
»Oh«, sagte Quentin, es klang enttäuscht.
»Ja«, pflichtete ich ihm bei. »Oh.«
Etwas knisterte hinter mir. Ich dachte nicht
Weitere Kostenlose Bücher