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October Daye - McGuire, S: October Daye

October Daye - McGuire, S: October Daye

Titel: October Daye - McGuire, S: October Daye Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Seanan McGuire
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wollte zuerst darüber nachdenken. Vermutlich gab es einen vollkommen logischen Grund dafür, dass Barbaras Schublade abgeschlossen war. Vielleicht stibitzte jemand ihre Bleistifte.
    Oder vielleicht versuchte sie, etwas zu verbergen.
    Das Knacken billiger Schlösser ist nur eine der vielen lustigen Fertigkeiten, die ich mir im Zuge meines Alltagsberufs angeeignet habe. Es ist erstaunlich, wie viele Scheidungsfälle sich durch Dinge gewinnen lassen, die ein fünfzig Cent teures Schloss an einem herkömmlichen Schreibtisch schützt. Ich ließ den Blick über die Tischplatte wandern, bis ich eine große Büroklammer erspähte. Es dauerte nur Sekunden, sie geradezubiegen, dann beugte ich mich mit dem behelfsmäßigen Dietrich in der Hand über das Schloss.
    In der Regel braucht man höchstens eine Minute, um ein Schreibtischschloss zu knacken. Bei diesem war es nicht anders. Nach drei scharfen Drehungen des Drahtes gaben die Riegel nach, und die Schublade öffnete sich mit einem vernehmlichen Klicken. Das Geräusch von Gordans Tippen verstummte einen Augenblick, dann setzte es genauso schnell wie zuvor wieder ein. Mit angehaltenem Atem zog ich die Schublade aus dem Schreibtisch, stellte sie leise auf den Boden und begann ihren Inhalt zu durchsuchen.
    Die oberste Schicht erwies sich als recht allgemein: Ankündigungen firmeninterner Veranstaltungen, aufgerissene Umschläge, alte Lohnabrechnungen und leere Notizblöcke. Ich blätterte sie durch, legte sie beiseite und grub mich weiter nach unten. Noch mehr Papier, noch mehr Müll, nichts davon komplexer als die Schichten von Allerlei, die sich in jedem Schreibtisch der Welt bilden. Ihr Scheckbuch lag ganz unten. Ich begann es durchzublättern. Dabei fielen mir die süßen Kätzchen auf den Schecks auf, bevor ich das Protokoll der Ein- und Auszahlungen erreichte. Dort hielt ich inne und verspürte plötzlich Kälte.
    Etwa die Hälfte der Einzahlungen war mit ›Gehalt‹ gekennzeichnet. Die Beträge waren ansehnlich und deuteten auf ein respektables, wenngleich nicht überwältigendes monatliches Einkommen hin. Jedenfalls erschien mir daran nichts verdächtig. Die anderen Einzahlungen allerding s …
    Die Buchungstexte besagten ›Vertragsprämie‹. Die Einträge kamen fast so häufig vor wie die Lohnzahlungen, allerdings war jeder Betrag gut und gern dreimal so hoch. Ich weiß vielleicht nicht viel über die Computerbranche, aber ich verstehe mich auf Logik. Wenn Barbara auf selbstständiger Basis so viel verdiente, hätte sie ALH nicht gebraucht; allein die Vertragszahlungen deckten ihre Abhebungen und Ausgaben. Wofür diese Zahlungen auch gewesen sein mochten, es handelte sich nicht um Vertragsarbeit.
    Ich steckte das Scheckbuch in meine Jackentasche und durchsuchte die Schublade weiter. Der restliche Inhalt war nicht bemerkenswert, und ich kam bald ganz unten an. Auf dem Boden neben mir stapelten sich Papierhaufen und Bürobedarf. Mit gerunzelter Stirn blickte ich zwischen dem Zeug und der leeren Schublade hin und her. Als ich das Schloss knackte, war die oberste Schublade so voll, dass sie überzuquellen drohte. Nun wies der Stapel fünf Zentimeter weniger Höhe auf als die Lade, und das, obwohl er viel unordentlicher war. Irgendetwas fehlte.
    Ich fasste in die Schublade und tastete mit den Fingern an den Rändern entlang, bis ich auf eine Aussparung in der linken hinteren Ecke stieß. Volltreffer. Es dauerte nur wenige Minuten, den falschen Boden herauszulösen, sodass ich den Rest des Inhalts der Schublade betrachten konnte. Ich blickte hinein und erstarrte mit geweiteten Augen. Ganz oben auf dem ordentlichen Papierstapel, den ich aufgedeckt hatte, befand sich ein Umschlag, versehen mit dem aus Sternen und Mohnblüten bestehenden Wasserzeichen von Traumglas.
    Der Umschlag war nicht versiegelt. Ich achtete darauf, das Papier so wenig wie möglich zu berühren, und schüttelte den Inhalt in meine Hand: ein uneingelöster Scheck über einen Betrag, der den in Barbaras Scheckbuch angeführten ›Vertragsprämien‹ entsprach, außerdem eine Nachricht, die lautete: ›Beiliegend erhalten Sie die Zahlung für die Tätigkeiten im Mai. Der Bericht für Juni wird zur selben Zeit und am selben Ort erwartet.‹ Darunter prangte die weitläufige, schnörkelige Unterschrift von Herzogin Riordan. Hätte mir nicht bereits das Wasserzeichen verraten, was los war, damit wäre es sicher gewesen.
    »Ich schätze, den Bericht für Juni wirst du nicht mehr abliefern«, murmelte ich,

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