October Daye: Nachtmahr (German Edition)
hielt ich meine Hand darunter. Ich fühlte zunächst nur die Kälte, erst dann den brennenden Schmerz. Ich schrie auf, fuhr zurück und starrte die Luidaeg böse an.
Sie zuckte die Achseln. »Ich bin die Meerhexe, erinnerst du dich? Hattest du mit Süßwasser gerechnet?«
Hätte ich wohl nicht tun sollen, hatte ich aber. Mein Fehler: Ich hatte aufgehört, vor der Luidaeg auf der Hut zu sein, und mich ganz auf ihren Bruder konzentriert. »Nein«, sagte ich leise. »Wohl eher nicht.«
»Braves Mädchen.« Sie ließ die Schnur in das Gläschen fallen, schraubte den Deckel drauf und schüttelte es. Die Münzen klapperten, das Blut klatschte an die Glaswände. Ich sah weg. »Waschlappen«, schalt sie mich. Als ich wieder hinschaute, schraubte sie das Glas auf und schüttete den Inhalt in eine Wachsform, die sie dann mit Salzwasser aus dem Wasserhahn übergoss.
»Was machst du da?« Blutrituale sind gefährlich. Wenn ich es mit einem zu tun bekam, wollte ich das wissen.
»Deine Landkarte.« Sie hob die Form hoch, zerschmetterte sie auf dem Küchentresen und fing mit leichter Hand die Kerze auf, die aus den Scherben fiel. »Perfekt.«
Ich starrte hin.
Die Kerze war über dreißig Zentimeter lang und aus vielfarbigem Wachs. Wirbelnde Streifen von Mondweiß, Kupferrot und blassem Strohgold verbanden sich zu langen, trägen Spiralen. Der Docht hatte ein tiefes, kräftiges Braun wie längst getrocknetes Blut. »Was zum … «
»Es gibt drei Pfade, auf denen ich jemanden zu meinem Bruder schicken kann.« Sie drehte die Kerze in der Hand, dass es schien, als würden die Farben im Wachs tanzen. »Da ist zum einen der Blutpfad – den könntest du wohl nehmen, aber das willst du nicht. Nicht, wenn du eine Chance haben möchtest, lebend wieder nach Hause zu kommen. Dann ist da der Alte Pfad, aber selbst mit meiner Hilfe kannst du so, wie du bist, die Tür nicht finden. Dafür bist du zu sehr Promenadenmischung.«
»Was bleibt also übrig?«, fragte ich. Spike rasselte immer noch mit den Dornen und knurrte. Ihm gefiel das alles nicht. Mir auch nicht.
»Der letzte Pfad.« Sie hielt die Kerze hoch und lächelte beinahe traurig. »Der Pfad, den man im Kerzenlicht geht. Es wird nicht leicht – das kann es nie sein – , aber du hast Eisen, und du hast Silber, und du kommst hin und wieder zurück, wenn du dich beeilst.«
»Womit muss ich anfangen?«
»Hast du Seilspringen gespielt, als du ein Kind warst?«
Ich starrte sie an. »Was?«
»Seilspringen. Seid ihr auf dem Spielplatz über ein kreisendes Seil gehüpft und habt gesungen? ›Kaiserin von China‹ und ›Teddybär, dreh dich um‹?«
»Natürlich.«
»Blind Michael ist ein Kinderschreck. Wenn du den Schwarzen Mann jagst, suchst du dir die Netze, die du dafür brauchst, in den Geschichten, die du fast vergessen hast.« Ihre Augen blitzten weiß auf. »Pass gut auf, wo die Rosen wachsen. Wandern musst du ohne Schande tief in meines Bruders Lande. Weißt du noch den Weg?«
»Ich wusste ihn doch noch nie!«
»Natürlich wusstest du ihn. Du hast es nur vergessen. Wie viele Meilen nach Babylon?«
»Was?«
Die Luidaeg seufzte. »Du hörst nicht zu . Wie viele Meilen nach Babylon?«
Die Phrase klang irgendwie vertraut. Ich besann mich und suchte die Antwort in den halb vergessenen Erinnerungen meiner Kindheit, die ich schon so lange hinter mir gelassen hatte. Dann wagte ich mich vor: »Fünf Dutzend und noch zehn?«
Sie nickte. »Gut. Weißt du, wie du zurückkommst?«
»Ist dein Fuß klein und ohne Gewicht, kommst du hin und zurück mit der Kerze Licht.« Ich konnte mich erinnern, wie ich Hand in Hand mit Stacy sprang, während Julie und Kerry das Seil schlugen und völlig klar war, dass wir immer lachen und jung sein und Freundinnen bleiben würden.
»Schon besser. Sind deine Füße noch klein und ohne Gewicht? Besser für dich wär’s.« Sie öffnete den Kühlschrank und entnahm ihm eine braune Glasflasche, die mit einem Fetzen Klarsichtfolie und einem Gummiband verschlossen war. »Aber es gibt eine Methode, solche Dinge vorzutäuschen. Hier.« Sie hielt mir die Flasche hin.
Ich beäugte sie misstrauisch. Ich konnte das Zeug darin zischen hören. »Was soll ich damit anfangen?«
»Hat dich heute Morgen jemand mit dem Idiotenstock gehauen? Du sollst es trinken.«
»Habe ich noch andere Möglichkeiten?«
»Willst du lebend wiederkommen?«
Ich seufzte und griff nach der Flasche. »Richtig.« Die Klarsichtfolie löste sich auf, wo ich sie berührte. »Wie
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