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October Daye: Winterfluch (German Edition)

October Daye: Winterfluch (German Edition)

Titel: October Daye: Winterfluch (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Seanan McGuire
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»Ich bezweifle, dass sie überhaupt herkäme, um dich anzubrüllen.«
    »Ich denke, du wärest überrascht, was sie tun würde.« Ich starrte Lily an und fand keine Erwiderung darauf. Also setzten wir uns einfach und tranken Tee, während sich Schweigen zwischen uns ausbreitete, bis Lily den Kopf hob und ein unsichtbares Zeichen zur Kenntnis nahm.
    »Die Sonne ist untergegangen«, verkündete sie und erhob sich mit flüssiger Anmut. »Komm, October. Nun ist es aber Zeit zu gehen. Ich hoffe bloß um deinetwillen, dass du dich ausreichend erholt hast.«
    Ich rappelte mich auf und folgte ihr. Unterwegs hielt ich kurz inne, um meine blutigen Kleider von einer Púca mit Libellenflügeln und weißblinden Augen entgegenzunehmen. Sie wirkte so vertraut wie jemand, den ich einst gekannt hatte, aber ich fragte sie nicht, woher. Die Geschichten, auf die man in den unabhängigen Mugeln stößt, sind für gewöhnlich keine schönen.
    Lily blieb stehen und musterte mich. »Du solltest dich anziehen«, schlug sie vor. »Es ist kalt da draußen, und daran bist du nicht so gewöhnt wie ich.«
    »Stimmt«, pflichtete ich ihr bei. Niemand ist so sehr an die Kälte angepasst wie eine Undine, abgesehen von den verschiedenen Arten von Schnee-Fae. Lily konnte bei Temperaturen unter dem Gefrierpunkt nackt umherlaufen, ohne sich daran zu stören.
    Ich zog die Jeans über den Saum des zu kurzen Gewands, wodurch es sich in eine etwas geschmacklose, teuer aussehende Seidenbluse verwandelte. Den Pullover trotz der Blutflecken und des Drecks überzustreifen gab mir etwas mehr das Gefühl, Herrin der Lage zu sein, ungeachtet des Lochs in der linken Schulter. Nicht wie eine Flüchtige aus einem Fae-Bordell gekleidet zu sein bewirkt so etwas bei mir. Ich hätte gern meinen Büstenhalter wieder angelegt, aber dafür hätte ich das Seidengewand ausziehen müssen. So knüllte ich ihn stattdessen zu einem Ball und stopfte ihn unter meinen Hosenbund. Mein linker Arm beugte sich zögernd, aber er beugte sich. Damit würde ich zufrieden sein müssen. Mir selbst zunickend, folgte ich Lily durch die Dunkelheit und zurück in die Welt der Menschen.
    Die Nacht hatte die Touristen vertrieben und füllte die Schatten mit Massen anderer Art. Glühwürmchen gibt es in Kalifornien nicht, dennoch schwirrten Lichtpunkte über der Wasseroberfläche und huschten vor ehrgeizigen Fischen davon. Ein Pixiebefall hat auch seine Vorteile: Glühwürmchen bereichern die Nacht nicht mit glockenhellem Gelächter oder jagen einander in kunstvollen Tänzen durch die Luft. Durch die Äste der Bäume war Weihnachtsbeleuchtung geschlungen, die für eine zusätzliche, konstantere Helligkeit sorgte. Pixies, die der Luftakrobatik müde geworden waren, hockten auf den Kabeln, und Grüppchen von Bewohnern, deren Größe schon menschenähnlicher war, sprenkelten tratschend und lachend die Pfade. Der Teegarten erlebt seine Blüte stets dann, wenn nur die nächtlichen Bewohner zugegen sind, um ihn zu bewundern. Das ist die Zeit, in der nieman d – und nicht s – etwas zu verbergen hat.
    Die Unterhaltungen verstummten, als wir uns näherten, und ich spürte im Vorbeigehen Augen im Rücken. Ich drehte mich nicht um. Manche Dinge lässt man besser ruhen, und dazu gehören Fragen von Leuten, die vierzehn Jahre lang ihre Heimat verloren haben, weil sie zu meinem Gefängnis geworden war. Es tat mir leid, und ich hätte es ungeschehen gemacht, ohne zu zögern, hätte es in meiner Macht gestande n … aber ich lernte jeden Tag ein wenig mehr, dass es nie zu einer Lösung führte, wenn man zurückblickte.
    Die von Lily versprochene Helferin saß auf einem niedrigen Holzzaun neben dem Tor und plauderte mit einem großen, braunhaarigen Mann, dessen Augen der bezeichnende Schimmer von Fae-Salbe umgab. Ich blieb stehen und starrte sie an.
    »Juliet?«, fragte ich.
    Die Frau wandte sich dem Klang ihres Namens zu und lächelte, wobei sie übergroße Eckzähne hinter kirschroten Lippen offenbarte. Schmale Streifen liefen seitlich ihr Gesicht entlang und verloren sich in den goldenen und braunen Strähnen ihres Haars. »Hallo, Tobes«, sagte sie, glitt mit geschmeidiger Mühelosigkeit vom Zaun und grinste mich halb an. »Sehr überrascht?«
    »Julie«, stieß ich beinah im Flüsterton hervor. Irgendwie überwanden wir den Abstand zwischen uns; dann umarmte ich sie und lachte so heftig, dass es wie ein Weinen aussa h – oder weinte ich so heftig, dass es an ein Lachen grenzte? Julie hatte die Arme um mich

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