Odessa Star: Roman (German Edition)
geflogen.‹«
In den Tagen danach verdrückte sich der Schmerz langsam; nach einer Woche fühlte es sich nur noch wie Muskelkater nach einer sportlichen Anstrengung an oder wie das wohlig müde Gefühl nach einem langen Tag im Freien.
Und jetzt, während wir auf der Brücke fast im Schritt fahren, ist es eigentlich nur noch die Nase, die sich erholen muss; ich denke an Richard H., der kaum achthundert Meter entfernt im Gebüsch liegt, dann gebe ich Gas.
»Ist heute Abend nicht Wer wird Millionär? «, fragt David, als wir beim ehemaligen Schlachthof in den Cruquiusweg einbiegen.
»Ja.« Ich könnte so tun, als hätte ich es vergessen, aber das stimmt nicht: Ich habe versucht, nicht daran zu denken, was etwas anderes ist.
»Und? Hast du gewonnen?«
In den paar Wochen, die seit der Aufzeichnung der Sendung verstrichen sind, hat er das schon öfter gefragt, und jedes Mal habe ich ihm geantwortet, wenn ich ihm das sagen würde, dann wäre ja die Spannung weg.
Was soll ich ihm diesmal antworten? Dass ich sechzehntausend Gulden gewonnen habe? Dass ich den Jeep Cherokee davon bestimmt nicht bezahlen kann? Oder soll ich schon mal verraten, dass sich Max am Telefon für unseren ehemaligen Französischlehrer ausgibt?
Ich sehe uns nebeneinander auf der Couch vor dem Fernseher sitzen, eine Schale mit Erdnüssen, eine Flasche Bier, David hat seinen Kopf an die Schulter seiner Mutter gelehnt, die ihm sanft durchs Haar streicht. Aller Wahrscheinlichkeit nach ist es das erste Mal in der Geschichte von Wer wird Millionär? , dass der Telefonjoker am Abend der Sendung nicht mehr am Leben ist. Wenn der Kandidat einen Rollator für ein Deodorant hält, werde ich meinem Sohn zuzwinkern müssen, damit er kapiert, dass auch diese falsche Antwort Teil des größeren Geheimnisses ist, das wir seit heute Morgen teilen – wenn er auch nicht gleich verstehen wird, warum.
Letzten Dienstag im Mare Nostrum war die Sendung natürlich zur Sprache gekommen; so erfuhr ich, dass die Zehnmillionen-Frage einen deutschen General betraf, der im Mai 1940 durch die Ardennen stieß, um die Maginot-Linie zu umgehen.
»Komm schon, wie hieß er noch?«, fragte Max mit einem Grinsen und kippte seinen zweiten eisgekühlten gelben Kräuterschnaps auf Rechnung des Hauses hinunter. Seine Augen waren rot unterlaufen, als hätte er ein paar Nächte nicht geschlafen, und ich hatte den Verdacht, dass es nicht sein erstes Gläschen an diesem Abend war.
»Student«, sagte ich, »Kurt Student.«
Auf einer Serviette hatte Max ausgerechnet, wie viel Geldich ihm noch schuldete: neun Millionen weniger sechzehntausend, die mir zustanden. »Macht acht Millionen neunhundertvierundachtzigtausend«, sagte er und starrte mich eine ganze Weile nachdenklich an.
Dann nahm er die Serviette und zerriss sie. »Wir vergessen das Ganze«, sagte er. »Ich wollte dich um etwas bitten …«
Ich musste sofort an Sylvia denken, Sylvia, die mich am Morgen angerufen hatte. Ob ich wisse, wo Max sei. Ich hatte keinen blassen Schimmer, aber ich sagte ihr, ich hätte mich am Abend mit ihm im Mare Nostrum verabredet. Ob ich ihm etwas ausrichten könne?
»Es geht um Sharon«, sagte sie. »Sie ist krank.«
»Doch hoffentlich nichts Ernstes?«
Sie hatte kurz geschwiegen. »Ich weiß es noch nicht. Als Max heute Morgen aus dem Haus ging, sah es noch wie eine ganz normale Grippe aus. Er soll mich unbedingt anrufen.«
Ich war noch nicht dazu gekommen, Max die Nachricht weiterzugeben; an dem Morgen hatte ich mich noch darüber gewundert, dass Sylvia Max nicht erreichen konnte, aber jetzt wunderte ich mich nicht mehr.
Als wir unsere Aperitifs bestellten, fragte Max, früher, als ich erwartet hatte, wie es mir gehe.
Ich zuckte mit den Achseln. »Keine bleibenden Schäden.«
»Du musst das Ganze in einem größeren Zusammenhang sehen«, sagte Max. »Durch deine Schuld ist uns eine hübsche Summe durch die Lappen gegangen. Das kann nicht ungestraft bleiben. Es geht um mehr als nur um dich. Es geht um Glaubwürdigkeit. Verstehst du?«
»Aber …«
»Ich weiß, was du sagen willst. Es war impulsiv. Ich habe immer impulsiv gehandelt, deshalb habe ich mich auch so lange in diesem Business halten können. Wenn das Rindvieh nicht vor dem blöden Jogger mit seiner Pistole herumgefuchtelt hätte, dann hätte ich es wahrscheinlich nicht gemacht und dann säßen wir jetzt, wer weiß, gemütlich zu dritt hier.«
Er schnupperte an seinem Getränk und stellte es wieder hin, zum dritten oder vierten
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