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Odessa Star: Roman (German Edition)

Odessa Star: Roman (German Edition)

Titel: Odessa Star: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Herman Koch
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entzündetem Zahnfleisch riechende, so gut wie blattlose Fettpflanze. Titia , würde ich sagen, wenn sie schließlich mit einer Aldi-Tüte vor mir stünde. Titia, es tut mir sehr leid, was passiert ist, komm doch rein, setz dich, stell die Suppe so lange hierhin, deine Mutter … ja, was soll ich sagen, deine Mutter und ich, wir hatten so unsere Meinungsverschiedenheiten, aber das … nein, Titia, setz dich doch, möchtest du einen Kaffee? Oder hast du eher Lust auf einen Schnaps? Ich habe noch irgendwo einen herrlichen Jack Daniel’s …
    Und da geriet das Gespräch ins Stocken; solange Max nicht aus Odessa zurück war und ich nicht wusste, was im Parterre tatsächlich passiert war, gab es keine Fortsetzung. Eine tote Frau de Bilde, ob nun eines natürlichen Todes gestorben oder nicht, die nur noch irgendwo begraben oder eingeäschert zu werden brauchte, stellte kein großes Problem dar … Ich möchte nichts übereilen, Titia, erst recht nicht unter diesen tragischen Umständen, aber wann gedenkst du, die Wohnung auszuräumen? Aber wie die Dinge nun lagen, war Titias Mutter nur als vermisst gemeldet: ein Foto im Fernsehen und dazu die Grabesstimme: »Wer hat diese Frau in letzter Zeit noch gesehen?« Von Ausräumen konnte vorläufig nicht die Rede sein, weil Frau de Bilde theoretisch immer noch zurückkehren konnte; genau besehen, war ich einer der wenigen Menschen, die wussten, dass diese Rückkehr so gut wie ausgeschlossen war.
    Titia … je weniger ich mir im Klaren darüber war, wie ich mich in dieser unsicheren Lage verhalten sollte, desto mehr widerstrebte mir dieser Vorname; vielleicht war es einFehler gewesen, dieser hässlichen Sau überhaupt die Möglichkeit zu bieten, überflüssige Fragen zu stellen; vielleicht hätte in einem Aufwasch gleich auch die Missgeburt von einer Tochter vom Erdboden verschwinden sollen. Viele trauernde Angehörige würden sich nicht melden, schätzte ich; wenn man mich tatsächlich nach einer Schätzung fragen würde – wegen einer Wette zum Beispiel –, würde ich sagen: nicht einer.
     
    Nein, es passierte nichts Nennenswertes in dieser ersten Woche – und dann passierte auf einmal alles gleichzeitig.
    Es war an einem Samstagmorgen. David war schon früh zum Fußballspielen gegangen, Christine las oben im Bett die Zeitung, als das Telefon klingelte. »Peter«, hörte ich eine düstere Stimme.
    Peter Bruggink! Mein ältester Freund. Er hatte eine Nachricht auf meinem Anrufbeantworter hinterlassen, aber ich hatte keine Zeit – oder Lust – gehabt, ihn zurückzurufen. »Peter! Wie geht’s?«
    Ich hatte nur Unterhose und T-Shirt an; mit dem schnurlosen Telefon ging ich zum Fenster an der Straßenseite und drehte die Lamellen der Jalousie halb auf. So konnte ich gerade noch sehen, wie Titia de Bilde ihr Fahrrad über den Bürgersteig schob und an den Zaun der Grünanlage lehnte. Sie beugte sich vornüber, um das Rad abzuschließen, und ich starrte auf ihr mir zugewandtes Hinterteil. Am Fahrradlenker hing tatsächlich eine Plastiktüte, wenn ich die orange Farbe auch nicht gleich mit dem Namen einer Supermarktkette in Verbindung bringen konnte, und für einen kurzen Augenblick schien der durchdringende Geruch von Gemüsesuppe, geradewegs durch das Doppelfenster, meine Nase zu erreichen.
    »Nicht so gut«, sagte Peter. »Warum hast du mich nicht angerufen?«

    Bei einer früheren Gelegenheit hatte mich das Hinterteil von Frau de Bildes Tochter an einen rückwärts einparkenden Lastwagen erinnert, doch an diesem herrlichen Samstagmorgen, an dem die frühen Sonnenstrahlen auf ihre eng anliegende braune Hose fielen, ähnelte es mehr einem misslungenen Nachtisch, der nicht auf der Speisekarte steht – ein Nachtisch, den jeder, der noch bei vollem Verstand ist, umgehend zurückgehen lässt.
    »Ich habe …«, fing ich an, aber in dem Moment nahm Titia die orange Plastiktüte von der Lenkstange und schaute nach oben. Unwillkürlich machte ich einen Schritt zurück. Hatte sie mich da in Unterhose und T-Shirt stehen sehen? Ich drehte die Jalousie zu.
    »Du hast mich vor einer Woche mal angerufen«, hörte ich Peter Bruggink sagen. »Ich habe Nummernanzeige und sah, dass du mich mit dem Handy angerufen hast, also dachte ich, du bist noch im Urlaub.«
    Es war albern, dass ich die Jalousie geschlossen hatte, da sie mich wahrscheinlich gesehen hatte, jetzt würde sie denken, ich wolle ihr aus dem Weg gehen, obwohl ich doch nichts zu verbergen hatte, Unterhose hin oder her. Aus einem

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